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wir den Blick von den eben berührten Mysterien ab und hin auf unser geistiges Leben überhaupt, wie es nach Inhalt und Form, innerer wie äußerer, sich gestaltet hat. Die Frage drängt sich uns auf: haben wir eine deutsche Kultur? Civilisation, Gestaltung der äußeren Lebensbedingungen, in höchstem Maße, ja mehr wohl, als von Heil ist. Aber Kultur, darunter wir ein sehr Hohes verstehen: das einmütige Erstreben eines Vollkommenheitsideals, wie es sich aus bestimmten Ideen, aus einer geschlossenen Weltanschauung und Geistesbildung ergiebt? Eine Kultur, wie es die des Griechentumes, ja auch die der italienischen Renaissance war — wie sie die Vorstellung vom harmonisch in allen seinen Kräften entwickelten Menschen zu verwirklichen bemüht war und wie sie aus solcher Vorstellung die äußere Lebensgemeinsamkeit in künstlerischen Formen der Sitte gestaltete? Von einer deutschen Kultur in diesem Sinne können wir nicht sprechen. Wir sind in ihrer Ausbildung durch das furchtbare XVII. Jahrhundert unterbrochen worden: jene langen Jahrzehnte des Leidens, Entbehrens und Vernichtens, die das Volk auseinanderrissen, sie haben auch das Zusammenwirken der pulsierenden geistigen Bestrebungen gelähmt. Mit um so eindringlicherem Bemühen aber haben dafür, aus der tiefsten Erkenntnis dessen, was uns not that, und aus dem Drange der Not, die sie selbst fühlten, heraus, alle unsere großen Geister: Denker, Dichter und Musiker seit Jahrhunderten das Ideal einer neuen christlich-germanischen Kultur gestaltet und mit aller Wunderkraft der Worte und der Töne gepredigt. Aus dem Allgemeinsamen, dem Heiligsten,

Empfohlene Zitierweise:
Henry Thode: Kunst, Religion und Kultur. Carl Winter’s Uinversitätsbuchhandlung, Heidelberg 1901, Seite 10. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Kunst,_Religion_und_Kultur.pdf/20&oldid=- (Version vom 1.8.2018)