Ich zweifle nicht, dass manche Gelehrte über den schon allgemein verbreiteten Ruf von der Neuheit der Hypothesen dieses Werkes, welches die Erde als beweglich, die Sonne dagegen als in der Mitte des Universums unbeweglich hinstellt, sehr aufgebracht und der Meinung sein mögen, dass die freien und schon vor Zeiten richtig begründeten Wissenschaften nicht hätten gestört werden sollen. Wenn sie aber die Sache genau erwägen wollten, würden sie finden, dass der Verfasser dieses Werkes nichts unternommen hat, was getadelt zu werden verdiente. Denn es ist des Astronomen eigentlicher Beruf, die Geschichte der Himmelsbewegungen nach gewissenhaften und scharfen Beobachtungen zusammenzutragen, und hierauf die Ursachen derselben, oder Hypothesen darüber, wenn er die wahren Ursachen nicht finden kann, zu ersinnen und zusammen zu stellen, aus deren Grundlagen eben jene Bewegungen nach den Lehrsätzen der Geometrie, wie für die Zukunft, so auch für die Vergangenheit richtig berechnet werden können. In beiden Beziehungen hat aber dieser Meister Ausgezeichnetes geleistet. Es ist nämlich nicht erforderlich, dass diese Hypothesen wahr, ja nicht einmal, dass sie wahrscheinlich sind, sondern es reicht schon allein hin, wenn sie eine mit den Beobachtungen übereinstimmende Rechnung ergeben; es müsste denn Jemand in der Geometrie und Optik so unwissend sein, dass er den Epicyclus der Venus für wahrscheinlich und ihn für die Ursache davon hielte, dass sie um vierzig Grade und darüber zuweilen der Sonne vorausgeht; zuweilen ihr nachfolgt. Denn wer sieht nicht, wie bei dieser Annahme nothwendig folgen würde, dass der Durchmesser dieses Planeten in der Erdnähe mehr als viermal, der Körper selbst aber mehr als sechszehnmal so gross erscheinen müsste, als in der Erdferne, und dem widerspricht doch die Erfahrung jeden Zeitalters. Es giebt auch noch andere, nicht geringere Widersprüche in dieser Lehre, welche wir hier nicht zu erörtern brauchen.
Anmerkungen [des Übersetzers]
- ↑ [3] 2) Ueber diese, der Idee des ganzen Werkes völlig fremden, einleitenden Worte sagt Humboldt (Kosmos II. p. 345—346): „Es ist eine irrige und leider noch in neuerer Zeit (Delambre, Histoire de l’ Astronomie moderne T. I. p. 140) sehr verbreitete Meinung, dass Copernicus aus Furchtsamkeit und in der Besorgniss priesterlicher Verfolgung die planetarische Bewegung der Erde und die Stellung der Sonne im Centrum des ganzen Planetensystems als eine blosse Hypothese vorgetragen habe, welche den astronomischen Zweck erfüllte, die Bahnen der Himmelskörper bequem der Rechnung zu unterwerfen, „„aber weder wahr, noch auch nur wahrscheinlich zu sein brauche.““ Allerdings liest man diese seltsamen Worte in dem anonymen Vorberichte, mit dem des Copernicus’ Werk anhebt und der „de Hypothesibus hujus operis“ überschrieben ist; sie enthalten aber Aeusserungen, welche, dem Copernicus ganz fremd, in geradem Widerspruche mit seiner Zueignung an den Papst Paul III. stehen. Der Verfasser des Vorberichts ist, wie Gassendi (Vita Copernici p. 319) auf das Bestimmteste sagt, ein damals in Nürnberg lebender Mathematiker, Andreas Osiander, der mit Schoner den Druck des[4] Buches de revolutionibus besorgte und, ob er gleich keines biblischen Scrupels ausdrücklich Erwähnung thut, es doch für rathsam hielt, die neuen Ansichten eine Hypothese und nicht, wie Copernicus, eine erwiesene Wahrheit zu nennen.“
Der älteste Zeuge dafür ist Kepler, welcher in einem Briefe vom Jahre 1609 (Kepleri opp. ed. Frisch, vol. III Frft. 1860 p. 136) sich folgendermassen ausspricht: „Vin’tu vero scire fabulae huius, cui tantopere irasceris, architectum? Andreas Osiander annotatus est in meo exemplari, manu Hieronymi Schreiber Noribergensis. Hic igitur Andreas, cum editioni Copernici praeesset, praefationem illam, quam tu dicis absurdissimam, ipse (quantum ex eius literis ad Copernicum colligi potest) censuit prudentissimam, posuit in frontispisio libri, Copernico ipso aut iam mortuo aut ignaro.“
Abraham Gotthelf Kästner in seiner Geschichte der Mathematik Bd. II. Göttingen 1797 pag. 367 sagt darüber: „Mit Osiander’s Vorberichte, die Bewegung der Erde sei nur Hypothese der Rechnung wegen, meint Doppelmeyer, wäre wohl Copernicus nicht zufrieden gewesen, wenn er es hätte prüfen können.“
Hierher gehört auch der Brief des Bischofs Giese von Culm, vom 26. Juli 1543 aus Löbau datirt, der in der Warschauer Ausgabe p. 640 abgedruckt, aber auch am Schlusse der Schrift: „Zur Geschichte des copernicanischen Systems“ von Dr. Franz Beckmann, Prof. zu Braunsberg, 1861, p. 42 und 43 zu finden ist, und nach der dort gegebenen Uebersetzung folgendermassen lautet:
An Joachim Rhetikus.
Von der Vermählungsfeier des Königs aus Krakau zurückgekehrt, finde ich die beiden von Dir übersandten Exemplare des jüngst gedruckten Werkes von unserm Copernicus, dessen Hinscheiden ich nicht eher vernahm, als bis ich den preussischen Boden betreten hatte. Den Schmerz über den Verlust des Bruders und grossen Mannes hätte ich durch Lesung des Buches, das mir ihn lebend wieder vorzuführen schien, ausgleichen können; aber gleich im Eingange bemerkte ich die Untreue und — Du bedienst Dich des rechten Ausdrucks — die Ruchlosigkeit des Petrejus, die einen Unwillen, grösser, als die vorhergehende Traurigkeit bei mir erregte. Denn wer möchte nicht ergrimmen über eine so grosse, unter dem Schutze des Vertrauens begangene Schandthat? Doch ist sie vielleicht nicht sowohl diesem Drucker, der von Andern abhängig ist, als dem Neide eines Mannes zuzuschreiben, der vielleicht aus Schmerz darüber, von dem alten Bekenntniss ablassen zu müssen, falls dieses Buch Ruf erlangen sollte, die Einfalt des Druckers missbraucht hat, um dem Werke das Vertrauen zu ihm zu entziehen. Damit aber derjenige nicht straflos ausgehe, der sich so durch fremden Betrug hat bestechen lassen, habe ich an den Senat in Nürnberg geschrieben, und in dem Schreiben angegeben, was meines Erachtens nothwendig ist, um das Vertrauen zu dem Verfasser herzustellen. Ich übersende den Brief mit einem Exemplare des Werkes an Dich, auf dass Du nach den Umständen ermessen mögest, wie die Sache einzuleiten ist. Denn zur Betreibung derselben bei dem Senate scheint mir Keiner so geeignet oder so willfährig zu sein, als Du bist, der Du die Rolle des Chorführers bei der Aufführung des Stückes gespielt hast, so dass Dir nicht weniger, als dem Verfasser an der Herstellung dessen liegen muss, was entstellt worden ist. Wenn Dir aber daran gelegen ist, so ersuche ich Dich angelegentlichst, Alles mit der grössten Sorgfalt auszuführen. Wenn die umzudruckenden ersten Blätter anlangen werden, hast Du, scheint mir, eine Vorrede beizufügen, damit auch die schon ausgegebenen Exemplare von dem Fehler der Entstellung befreit werden. Ja, ich wünsche sogar, es möge der Lebenslauf des Verfassers vorausgeschickt werden, den ich in der anziehenden Abfassung von Deiner Hand gelesen habe; ich glaube, es fehlt daran weiter Nichts, als das Lebensende, das durch einen Blutsturz mit hinzugetretener Lähmung der rechten Seite am 24. Mai herbeigeführt ist, nachdem schon viele Tage vorher Gedächtniss und geistige Regsamkeit geschwunden waren. Das Werk in seiner Vollendung hat er nur beim letzten Athemzuge gesehen an demselben Tage, an dem er verschieden ist. Dass es vor seinem Tode gedruckt erschienen ist, kommt nicht in Betracht; denn das Jahr stimmt, und den Tag, an dem der Druck vollendet ist, hat der Drucker nicht beigefügt. Ich wünsche, es möge auch das Schriftchen, durch das Du die Bewegung der Erde von dem Vorwurfe eines Widerspruches mit der heiligen Schrift befreit hast, hinzugefügt werden. So erhält das Werk den rechten Umfang und Du wirst zugleich den Uebelstand gut machen, dass in der Vorrede des Werkes der Lehrer Deiner nicht erwähnt hat, was er meines Erachtens nicht aus Gleichgültigkeit gegen Dich, sondern in Folge seiner Schwerfälligkeit und Sorglosigkeit, zumal da er schon matt war, unterlassen hat, indem ich wohl weiss, wie hoch er Deinen Beistand und Deine Gefälligkeit zu schätzen gewohnt war. Für die mir zugesandten Exemplare statte ich dem Geber grossen Dank ab; sie werden mir als immerwährendes Denkmal dienen zur Erinnerung nicht nur an den Verfasser, den ich stets geliebt habe, sondern auch an Dich, der Du ihm bei seiner Arbeit als Theseus kräftig zur Seite gestanden, und jetzt durch Deine Bemühungen und durch Deine Sorgfalt dazu mitgewirkt hast, dass wir den Genuss des vollendeten Werkes nicht entbehren. Wie viel wir Alle Dir für diese Deine Bemühungen zu danken haben, liegt nicht im [5] Dunkeln. Ich wünsche, Du mögest mich benachrichtigen, ob dem Papste das Werk übersandt worden ist; denn, wenn es nicht geschehen ist, so möchte ich dem Hingeschiedenen diesen Dienst erweisen. Lebe wohl!
Löbau den 26. Juli 1543.
Nicolaus Copernicus: Nicolaus Coppernicus aus Thorn über die Kreisbewegungen der Weltkörper. Ernst Lambeck, Nürnberg und Thorn 1879, Seite 1. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Kreisbewegungen-Coppernicus-0.djvu/29&oldid=- (Version vom 16.5.2017)