Seite:Klabund Deutsche Literaturgeschichte in einer Stunde 083.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

seines Dramas: sondern Menschen voll Blut und Sehnsucht, arme, elende Menschen, geprügelt wie Hunde von der Peitsche des Schicksals, hungernd und frierend, hungernd nach Brot und Licht, frierend an den kalten, steinernen Herzen der Mitmenschen, Menschen, die in einer ewigen Dämmerung „vor Sonnenaufgang“ leben, „einsame Menschen“, zu denen selten genug der Ton der „versunkenen Glocke“ herauftönt, Menschen, die einzeln nicht leben dürfen wie die schlesischen Weber, die ein Klumpen blutendes, zuckendes Stück Fleisch sind, Menschen, die fried- und ruhelos das Labyrinth des Daseins durchirren, bis eine sanfte Frau auch mit ihnen einmal das „Friedensfest“ feiert. Wie sind die zu beneiden, die, wie Hannele, so früh von dieser schmutzigen Erde zum Himmel fahren dürfen! Daß sie Kinder bekommen, zeugen und gebären – wie furchtbar! Wer will den ersten Stein auf „Rose Bernd“ werfen? Wer stürzt nicht weinend in sich zusammen, wenn der brave, ehrliche „Fuhrmann Henschel“, zwischen Schuld und Unschuld schwankend, sich erhängt? Alle Gestalten Hauptmanns sind Narren in Christo, wie der religiöse Schwärmer Emanuel Quint, um dessen Leben er einen Roman schuf, der im neu erwachenden, religiösen und sektiererischen Leben der Zeit noch eine Rolle spielen wird.


Wie die Geibelperiode in Empfindelei und Süßlichkeiten, so artete der Naturalismus schließlich in Krafthuberei, törichte Brutalität und Apotheose[1] des Misthaufens aus. Süßigkeit des Wortes, Sinnlichkeit der Seele: die Schönheit: verfiel dem Fluch der Lächerlichkeit. Es ist das Verdienst von Friedrich Nietzsche und Stefan George, das deutsche Wort in barbarischer Epoche bewahrt und in heiligen Hainen Anbetung und Weihrauch der tönenden Gottheit dargebracht zu haben. Friedrich Nietzsche (1844 bis 1900) ist mit der musikalischen und rhythmischen Prosa seines

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Apotheose (griech.), Aufnahme eines Menschen unter die Götter, hier: Verherrlichung
Empfohlene Zitierweise:
Klabund: Deutsche Literaturgeschichte in einer Stunde. Leipzig-Gaschwitz: Dürr & Weber, 1920, Seite 83. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Klabund_Deutsche_Literaturgeschichte_in_einer_Stunde_083.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)