Seite:Klabund Deutsche Literaturgeschichte in einer Stunde 076.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

nicht fehlgehen. Wie steht es hingegen mit den Wegen zu sich? Da gerät man auf allerlei Nebenpfade, in Gestrüpp, Wolfsgruben, auf fremden Besitz, und man muß froh sein, wenn man schließlich am Abend die Herberge findet und auf der harten Ofenbank schlafen darf. Man weiß manchmal wirklich nicht, ob man das Rechte trifft, wenn man z. B. Maler- und Anstreicherlehrling wird. Und schließlich wendet sich doch alles zum Rechten, denn man bringt von der Malerei ein unverlierbares Gut im Felleisen heim: die Kraft der lebendigen Anschauung aller Dinge. Es kommt für den Dichter nicht nur darauf an, die Gedanken zu Ende zu denken, sondern auch den Erscheinungen bis ins Herz zu sehen, sie zu durchschauen. Als wäre der Mensch ein Stück Glas. Solches konnte Gottfried Keller. Und weil er eine so klare Anschauung von den Menschen hatte, deshalb gerieten sie in seinen Novellen so klar und durchsichtig. Diese Novellen, gesammelt in den Büchern „Die Leute von Seldwyla“, „Sieben Legenden“, „Züricher Novellen“, „Das Sinngedicht“ – bedeuten einen Gipfel deutscher Erzählerkunst. Wer als Erzähler ihn wieder erreichen will, der muß hoch und mühsam klettern – da wird es nicht so bequem hinaufgehen wie auf die Rigi, das ist schon mehr eine Matterhornbesteigung. Gottfried Keller hat ein vollkommenes Gedicht: das Gedicht vom alten Pan im Walde geschrieben. Sein Landsmann Heinrich Leuthold hat deren drei oder vier, sein anderer Landsmann C. F. Meyer (aus Zürich, 1825–1898) hat deren viele. Hat Gottfried Keller typisch schweizerische Züge in seinem Wesen und Dichten, so wird man bei Meyer trotz manchen schweizerischen Stoffes (der Roman Jürg Jenatsch) vergebens danach suchen. Seine Landsmannschaft ist vollkommen undeutlich und unbestimmt. Er hat sich selbst als Statue eines Dichters nach einem Idealbild konstruiert. Er führte das Leben einer steinernen Statuette: ganz Marmor, ganz Glanz. Vierzig Jahre war C. F. Meyer, als er sein erstes Buch, ein kleines Buch Gedichte, veröffentlichte.

Empfohlene Zitierweise:
Klabund: Deutsche Literaturgeschichte in einer Stunde. Leipzig-Gaschwitz: Dürr & Weber, 1920, Seite 76. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Klabund_Deutsche_Literaturgeschichte_in_einer_Stunde_076.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)