Seite:Klabund Deutsche Literaturgeschichte in einer Stunde 050.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

ist falsch. Die heutige Dichtung der Expressionisten ist nicht unverständlicher oder absonderlicher als irgendein hymnisches oder ekstatisches Gedicht von Goethe, mit dessen Grundformen sie sich berührt. Dutzende ihrer Einzelerscheinungen sind läppisch oder unerfreulich. Dies darf nicht hindern anzuerkennen, daß ihr Kern so echt ist wie der jeder echten Dichtung. Daß sie als Reaktion auf den Mechanismus und Rationalismus der vorkriegerischen Zeit absolut historisch notwendig war und ist. Und daß sie die Unterstützung durch das Volk braucht und verdient.. Wir stehen heute kulturell in einem Wellental. Nur dann wird auch die deutsche Dichtung, die zweifellos seit der tristen Zeit von 70 wieder im Ausschreiten ist, wieder zu einem Gipfel kommen, wenn sie getragen wird von Förderung und Zuruf der Mitlebenden, vom Vertrauen und Verständnis des Volkes. Denn wo eins das andere nicht mehr begreift, da geraten sie beide auf Irrwege. Lest Bücher, Deutsche, lest die Bücher eurer Dichter und ihr werdet glücklicher und manchmal glücklich werden. Und vergeßt nicht die Bücher jener Dichter zu lesen, die in eurer Zeit, die eure Zeit leben; der Jungen, die sich nach eurer Gemeinsamkeit sehnen, der Alten, denen euer herzliches Mitgefühl die alternde Brust wärmt.

Wir kommen von Goethes Lyrik; wir wollen wieder zu ihr zurück. Immer wieder wollen wir zu ihr.. Denn jeder Gang zu ihr ist wie ein Heimweg ins Vaterhaus. Mit dem vielleicht herrlichsten Goetheschen Gedicht, dem Lied des Türmers, sind wir mitten im „Faust“, der Inkarnation des deutschen Wesens. Durch dies Drama schreitet der Dichter selbst in tausend Gestalten: er ist der junge Doktor Faust, der im sinnierenden Gespräch Sonntags vor dem Straßburger Tor spaziert, und dennoch die Augen so weit offen hat, die hübschen Sonntagsmädchen zu betrachten. Es ist Goethe, der mit seinen Kommilitonen Frosch und Brander im Leipziger Ratskeller soff, bis er unter den Tisch fiel. Es ist Goethe, der Friederike-Gretchen

Empfohlene Zitierweise:
Klabund: Deutsche Literaturgeschichte in einer Stunde. Leipzig-Gaschwitz: Dürr & Weber, 1920, Seite 50. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Klabund_Deutsche_Literaturgeschichte_in_einer_Stunde_050.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)