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etwas Fremdartiges sich einmischen konnte. Mit Überraschung bemerkt man auch hier Verwandtschaft im Ganzen oder in einzelnen Zügen mit den Märchen anderer weit entfernten Völker. Die Darstellung ist im höchsten Grade einfach, weiß nichts von einer Verschönerung oder der Beimischung irgend eines Reizes und denkt nur den Inhalt so wiederzugeben wie sie ihn empfangen hat. Merkwürdig, daß außer Zaubereien kaum etwas übernatürliches oder wunderbares vorkommt, keine Riesen, Zwerge und Kobolde; diese Mittelglieder scheinen dort unbekannt. Die Thiermärchen sind die zahlreichsten, wie überall, aus dem ununterbrochenen Umgang des Menschen mit den Thieren hervorgegangen, und auf die Natur derselben, auf ihr eigenthümliches Wesen gegründet. Der Hahn, die Henne, die Katze, die Thiere des Waldes und Feldes, sogar die Grille und Ameise treten darin auf und zeigen sich ohne Rückhalt in ihren guten und bösen Eigenschaften. Den Menschen stehen sie viel näher, ihre Verhältnisse und Einrichtungen gleichen sich vollkommen, ja sie haben Priester und wenden sich mit ihren Bitten und Wünschen an das höchste Wesen, das über ihre Handlungen Urtheil spricht. Es erscheinen nur die Thiere des Landes, natürlich also auch der Elephant, der Löwe, der Leopard, die Hyäne und die Schlange. Der Fuchs kommt nicht vor, aber seine Stelle nimmt das Wiesel ein, das an Klugheit und Verstand alle andern Thiere übertrift; wie es dazu gelangt ist, wird in einem sinnvollen Märchen erzählt. Der Gegensatz der Vögel und vierfüßigen Thiere fehlt nicht, auch nicht der Krieg zwischen beiden, worin die Mächtigen von den Kleinen, der Elephant von dem Wiesel und dem Vogel überlistet werden.

Nur fünf Märchen stellen menschliche Verhältnisse dar. In dem ersten wird von dem Sohn eines Reichen und dem Sohn eines Armen erzählt, die von ihrer Kindheit an in innigster Freundschaft leben. Der Reiche hat vier Frauen, der Arme kann seiner Dürftigkeit wegen keine nehmen. Der Reiche gibt seinem Freund fünf Pfund Kupfergeld und sagt ihm er solle zu seinen Frauen gehen und bei jeder anfragen ob sie ihn insgeheim lieben wolle. Die erste oder die Hauptfrau weist ihn zurück, ebenso die zweite und dritte, aber die vierte willigt ein und erklärt ihm daß sie Liebe zu ihm empfinde, worauf er ihr die fünf Pfund gibt. Der Arme stattet seinem Freund Bericht ab, dieser spricht „komm morgen Abend zu mir und wenn ich Zank mit dieser Frau anfange, so mische dich nicht hinein.“ Als nun

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Brüder Grimm: Kinder- und Haus-Märchen Band 3 (1856). Dieterich, Göttingen 1856, Seite 362. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Kinder_und_Hausm%C3%A4rchen_(Grimm)_1856_III_362.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)