Seite:Kinder und Hausmärchen (Grimm) 1856 III 300.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

um welche Zeit eine große Neigung dafür sich zeigt[1]. Wir übergehen die gewöhnliche Meinung, wonach man die anerkannt dunkele Entstehung dieser Dichtungen als eine Folge der Bekanntschaft mit den arabischen Erzählungen ansieht, wobei denn noch Erinnerungen aus den Gedichten der Trouvers und Troubadours sollen mitgewirkt haben[2]. Man braucht nicht einzuwenden daß Gallands Übersetzung der Tausend und einen Nacht erst (1704) nach Perraults Tod erschien, die Verwandtschaft der französischen Märchen mit den italienischen und deutschen und zugleich die sichtliche Unabhängigkeit davon beweist unwiderlegbar, was auch schon aus ihrem Geist folgt, daß ihr Inhalt aus mündlicher Überlieferung ist genommen worden. Die Entlehnungen die Dunlop (S. 408 bei Lieberecht) nachweisen will, sind alle unbegründet. Hierzu kommt zufällig ein äußerer Beweis. Scarron (geb. 1610 gest. 1660) gedenkt wahrscheinlich schon vor Perrault (geb. 1633, gest. 1703) in dem Roman comique (Paris 1651 S. 78.) der Peau d’âne. Perrault hat die Märchen rein aufgefaßt und, Kleinigkeiten abgerechnet, nichts zugesetzt: der Stil ist einfach und natürlich und, so weit es die damals schon glatte und abgerundete Schriftsprache zuließ, ist auch der Kinderton getroffen. Einzelne gute Redensarten sind wohl beibehalten, z. B. sie gieng tant que la terre put la porter; er kommt de douze mille lieues de là, oder je vais manger ma viande ich will essen; und ganz gewis noch aus mündlicher Überlieferung rührt im Blaubart Frage und Antwort „Anne, ma soeur Anne, ne vois tu rien venir?“ „Je ne vois rien que le soleil qui poudroie, et l’herbe qui verdoie“. Diesen Vorzügen verdankt ohne Zweifel das Buch seine Fortdauer bis in unsere Zeit.

1. Die weisen Frauen (Les fées). Im Pentamerone 3, 10 und 4, 7, bei uns Nr. 13 und 24. Das französische ist das dürftigste.
2. Die schlafende Schöne im Walde (La belle au bois dormant.). Pentamerone Sonne und Mond 5, 5, bei uns Dornröschen Nr. 50.

  1. Deren Graf Caylus in der Vorrede zu der Erzählung Cadichon (Cabinet des fées 25, 409) ausdrücklich Erwähnung thut.
  2. Bouterweck Geschichte der Poesie 6, 244. Vergl. (Valkenaer) Lettres sur les contes de fées attribués à Perrault et sur l’origine de la féerie, Paris 1826.
Empfohlene Zitierweise:
Brüder Grimm: Kinder- und Haus-Märchen Band 3 (1856). Dieterich, Göttingen 1856, Seite 300. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Kinder_und_Hausm%C3%A4rchen_(Grimm)_1856_III_300.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)