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Seneïdens Zimmer, wo die Blätterschatten lautlos über den Fußboden flirrten. „Wollen wir beten,“ sagte Tante Seneïde. Mareile und Seneïde knieten nieder, mitten unter die Blätterschatten. Seneïde betete mit ihrer klagenden, heißen Stimme. Dieses Gebet erfüllte das Kind mit wunderlicher Erregung, Andacht war es und Märchenschauer; leises Flügelrauschen glaubte es hinter sich zu vernehmen.

So siegte damals stets das Kaltiner Leben über die Empörung der kleinen Mareile. Das war vorüber! Jetzt gehörte sie nicht mehr zu diesen guten Menschen, die ihr Lebenskapital in der Bank jenseits des Grabes anlegten.

Aber da war noch einer, dessen unruhiger Schritt zu sagen schien, daß Mareile einen Gefährten ihrer Lebensungeduld hatte. Günther ging unablässig auf und ab. Zuweilen blieb er an der Gartentür stehen und horchte hinaus, als sollte durch die Nacht etwas zu ihm kommen. „Der wartet auch noch,“ dachte Mareile. – – – –

Es war zwei Uhr nachmittags, die schläfrigste Zeit des Tages im Schlosse. Die alten Damen im Wohnzimmer nickten über ihren Strickereien ein. Beate saß an der Wiege ihres Kindes und summte leise vor sich hin. Da schlug ein Ton in diese Stille, laut und süß. Mareile sang im Musiksaal. Wie ein seltsam schönes, fremdes Ereignis zogen die Töne durch die verschlafenen Räume.

Tante Lolo schreckte aus dem Schlaf auf. „Mein Gott! was gibts?“

„Die Mareile singt,“ sagte Tante Riecke und verzog das faltige Gesicht, als hätte sie einen Tropfen zu starken, süßen Weins getrunken.

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Eduard von Keyserling: Beate und Mareile. S. Fischer, Berlin [1903], Seite 77. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Keyserling_Beate_und_Mareile.djvu/77&oldid=- (Version vom 1.8.2018)