näherten, dann bekam das Leben wieder Gestalt und Sinn. Zuweilen horchte sie gespannt auf die Uhr, auf das geschäftige Ticken, das wie der Ton kleiner Füße klang, die eilig, eilig dem entsetzlichen Morgen zuliefen. Dann wurde das Licht der Nachtlampe blasser. Roter Schein drang durch die Vorhänge. Seneïde kam Beate ablösen. Beate ging in den Garten, schritt dort lange an der Buchsbaumhecke entlang, auf und ab. Als sie Mareile über den Hof kommen sah, kehrte sie in den Gartensaal zurück, bleich von ihren Kämpfen und Gebeten, die Hände voll feuchter, weißer Astern. Mareile wollte sich nach der Kranken erkundigen. In ihrem elfenbeinfarbenen Morgenkleide, rote Skabiosen im Gürtel, mit den gut ausgeschlafenen, klaren Augen, erschien sie Beate wie triumphierend in ihrer Kraft und Schönheit.
„Wie war die Nacht?“ fragte Mareile.
„Ruhig,“ erwiderte Beate und schaute auf die Astern nieder; als sie dann aufblickte, mußte Mareile etwas Seltsames in Beates Zügen gelesen haben, denn ihre Augen wurden groß und rund vor erschrockenem Erstaunen, und dann hatte sie verstanden. Die beiden Frauen, die ihre Kindheit miteinander verlebt, kannten die Bedeutung eines jeden Zuckens auf dem Gesichte der andern.
„Du mußt fort, Mareile, gleich fort von hier,“ sagte Beate scharf und kalt. Mareile breitete die Arme aus in einer großen, trauervollen Bewegung, wie nur sie sie wagen konnte; dann begann sie leise und schnell zu sprechen: „Ja, ich geh. Das ist dein Recht. Das mußte kommen. Das ist dein Recht. Aber sieh, das kannst du nicht verstehn, in meiner Art hab’ ich auch recht …“
Eduard von Keyserling: Beate und Mareile. S. Fischer, Berlin [1903], Seite 118. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Keyserling_Beate_und_Mareile.djvu/118&oldid=- (Version vom 1.8.2018)