Stimmton, den sie sonst für heilige, sonntägliche Dinge hatte. Und doch! „Pfui!“ sagte Beate vernehmlich in die Nacht hinein; dabei schreckte sie auf, sah das bleiche Gesicht in den Kissen an. Die Mutter lag mit offnen Augen da und schaute geduldig vor sich hin, wie Menschen es tun, die auf den Tod warten. Jetzt sagte sie etwas. Beate beugte sich vor. „Mareile – fort; es ist besser –“ sagte die Kranke und seufzte.
Beate lehnte sich in ihren Stuhl zurück. Mareile mußte fort, das war es. Morgen wollte sie sie fortschicken, fortjagen, wie einen Dienstboten, wie Amélie, und Günther sollte es wissen. Hier war wieder ein Wollen, ein Entschluß, auf dem Beate ausruhen konnte; sie brauchte nicht mehr ratlos um die Not herumzuirren. Das Blut der alten Rasse, die von Schonung und Zucht geschwächten Instinkte fanden nicht mehr die Kraft zu einem Zorn, der fortreißt und wohltut. Aber hier war ein Entschluß – etwas wie Pflicht und Ordnung schaffen, das beruhigte sie. Also morgen. Aber noch war es lange nicht morgen, noch brauchte sie nicht zu handeln. Sie schloß die Augen. „Warten, warten, ich weiß,“ klang es ihr wie ein trauriges Wiegenlied in die Ohren. Ein Gefühl unendlicher Einsamkeit legte sich schwer auf ihre Seele. In der Müdigkeit der Nachtwache wurde das Gefühl zum Bilde: helles Nebelgrau über dem herbstlichen Garten und dem verlassenen Hause. Oben in dem grauen Himmel ein Zug Raben, große, schwarze Vögel, die unablässig ihre Kreise zogen. Und auf dem feuchten Wege, vom Nebel umsponnen, eine einsame Frau mit einem Kinde. Ja, das Kind! Wenn ihre Gedanken sich der kleinen, blonden Gestalt
Eduard von Keyserling: Beate und Mareile. S. Fischer, Berlin [1903], Seite 117. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Keyserling_Beate_und_Mareile.djvu/117&oldid=- (Version vom 1.8.2018)