Seite:Ketteler Leichenrede 1848.pdf/10

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

uns die Botschaft des Heils schon seit Jahrtausenden gelehrt, und ich sehe ein wahnsinniges Streben des Einen über den Andern sich zu erheben; ich höre den schönen erhabenen Ruf nach Brüderlichkeit und Liebe, der so ganz ein Ruf ist vom Himmel uns zugetragen, und ich sehe den Haß und die Verläumdung und die Lüge unter den Menschen verbreitet; ich höre den Hülferuf für unsere armen leidenvollen Mitbrüder, — und wer, der sich nicht beide Augen ausgerissen, kann es läugnen, daß die Noth unter unseren armen Mitbrüdern entsetzlich ist, und wer, der sich das Herz nicht aus der Brust gerissen, stimmt nicht aus voller Seele ein in diesen Hülferuf? — und ich sehe die Habgier und den Geiz zunehmen, die Genußsucht immer wachsen, ich sehe Menschen, die sich „Männer des Volkes“ nennen, nichts anders treiben, als die Noth vermehren, die Arbeitslust untergraben, und ihre armen verführten Mitbrüder auf die Taschen ihrer Mitmenschen hetzen, während sie selbst nicht daran denken ihren Säckel den Armen zu öffnen, ich sehe sie die Christenlehre zerstören, die da befiehlt mit dem eigenen Säckel anzufangen, die da predigt, willst du vollkommen seyn, so verkaufe was du hast und gib es den Armen; ich höre den Ruf nach Freiheit, und ich sehe da Menschen gemordet, die es gewagt haben, ein freies Wort zu sprechen; ich höre den Ruf nach Einheit, und ich sehe den einen Stamm des Volkes mit dem andern in blindem unversöhnlichen Hader; ich höre den Ruf nach Humanität, und ich sehe eine Brutalität, die mit Schauder erfüllt. O ja, ich glaube an die Wahrheit aller dieser

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Emanuel von Ketteler: Leichenrede, gesprochen am Grabe der am 18. September gewaltsam Ermordeten und der im Kampfe gegen die Aufständischen Gefallenen. , Frankfurt am Main 1848, Seite 10. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ketteler_Leichenrede_1848.pdf/10&oldid=- (Version vom 1.8.2018)