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775 Die Disciplin d. r. Vernunft in Hypothesen. 775

ihnen die zum Hauptgrunde angenommene Meinung giebt, der sie gleichwol das Wort reden sollen.

 Wenn die hier zum Beispiele angeführte Vernunftbehauptungen (unkörperliche Einheit der Seele und Daseyn eines höchsten Wesens) nicht als Hypothesen, sondern a priori bewiesene Dogmate gelten sollen, so ist alsdenn von ihnen gar nicht die Rede. In solchem Falle aber sehe man sich ia vor: daß der Beweis die apodictische Gewißheit einer Demonstration habe. Denn die Wirklichkeit solcher Ideen blos wahrscheinlich machen zu wollen, ist ein ungereimter Vorsatz, eben so, als wenn man einen Satz der Geometrie blos wahrscheinlich zu beweisen gedächte. Die von aller Erfahrung abgesonderte Vernunft kan alles nur a priori und als nothwendig oder gar nicht erkennen; daher ist ihr Urtheil niemals Meinung, sondern entweder Enthaltung von allem Urtheile, oder apodictische Gewißheit. Meinungen und wahrscheinliche Urtheile von dem, was Dingen zukomt, können nur als Erklärungsgründe dessen, was wirklich gegeben ist, oder Folgen nach empirischen Gesetzen von dem, was als wirklich zum Grunde liegt, mithin nur in der Reihe der Gegenstände der Erfahrung vorkommen. Ausser diesem Felde ist Meinen so viel, als mit Gedanken spielen, es müßte denn seyn, daß man von einem unsicheren Wege des Urtheils blos die Meinung hätte, vielleicht auf ihm die Wahrheit zu finden.

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Immanuel Kant: Critik der reinen Vernunft (1781). Johann Friedrich Hartknoch, Riga 1781, Seite 775. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Kant_Critik_der_reinen_Vernunft_775.png&oldid=- (Version vom 18.8.2016)