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551 IX. Absch. Vom empir. Gebrauche des regul. etc. 551

 Gesezt nun, man könte sagen: die Vernunft habe Caussalität in Ansehung der Erscheinung; könte da wohl die Handlung derselben frey heissen, da sie im empirischen Character derselben (der Sinnesart) ganz genau bestimt und nothwendig ist. Dieser ist wiederum im intelligibelen Character (der Denkungsart) bestimt. Die leztere kennen wir aber nicht, sondern bezeichnen sie durch Erscheinungen, welche eigentlich nur die Sinnesart (empirischen Character) unmittelbar zu erkennen geben[1]. Die Handlung nun, so fern sie der Denkungsart, als ihrer Ursache, beizumessen ist, erfolgt dennoch daraus gar nicht nach empirischen Gesetzen, d. i. so, daß die Bedingungen der reinen Vernunft, sondern nur so, daß deren Wirkungen in der Erscheinung des inneren Sinnes vorhergehen. Die reine Vernunft, als ein blos intelligibeles Vermögen, ist der Zeitform, und mithin auch den Bedingungen der Zeitfolge, nicht unterworfen. Die Caussalität der Vernunft im intelligibelen Character entsteht nicht, oder hebt nicht etwa zu einer gewissen Zeit an, um eine Wirkung hervorzubringen. Denn

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  1. Die eigentliche Moralität der Handlungen (Verdienst und Schuld) bleibt uns daher, selbst die, unseres eigenen Verhaltens, gänzlich verborgen. Unsere Zurechnungen können nur auf den empirischen Character bezogen werden. Wie viel aber davon reine Wirkung der Freiheit, wie viel der blossen Natur und dem unverschuldeten Fehler des Temperaments, oder dessen glücklicher Beschaffenheit (merito fortunae) zuzuschreiben sey, kan niemand ergründen, und daher auch nicht nach völliger Gerechtigkeit richten.
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Immanuel Kant: Critik der reinen Vernunft (1781). Johann Friedrich Hartknoch, Riga 1781, Seite 551. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Kant_Critik_der_reinen_Vernunft_551.png&oldid=- (Version vom 18.8.2016)