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315 I. Abschnitt. Von den Ideen überhaupt. 315

unter Erkentnissen steht, die ein eigenthümliches Product der Vernunft sind. Wer die Begriffe der Tugend aus Erfahrung schöpfen wollte, wer das, was nur allenfalls als Beyspiel zur unvollkommenen Erläuterung dienen kan, als Muster zum Erkentnißquell machen wollte (wie es wirklich viele gethan haben,) der würde aus der Tugend ein nach Zeit und Umständen wandelbares, zu keiner Regel brauchbares zweideutiges Unding machen. Dagegen wird ein ieder inne: daß, wenn ihm iemand als Muster der Tugend vorgestellt wird, er doch immer das wahre Original blos in seinem eigenen Kopfe habe, womit er dieses angebliche Muster vergleicht, und es blos darnach schäzt. Dieses ist aber die Idee der Tugend, in Ansehung deren alle mögliche Gegenstände der Erfahrung zwar als Beyspiele (Beweise der Thunlichkeit desienigen im gewissen Grade, was der Begriff der Vernunft heischt), aber nicht als Urbilder Dienste thun. Daß niemals ein Mensch demienigen adäquat handeln werde, was die reine Idee der Tugend enthält, beweiset gar nicht etwas Chimärisches in diesem Gedanken. Denn es ist gleichwol alles Urtheil, über den moralischen Werth oder Unwerth, nur vermittelst dieser Idee möglich; mithin liegt sie ieder Annäherung zur moralischen Vollkommenheit nothwendig zum Grunde, so weit auch die, ihrem Grade nach nicht zu bestimmende Hindernisse in der menschlichen Natur uns davon entfernt halten mögen.

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Die
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Immanuel Kant: Critik der reinen Vernunft (1781). Johann Friedrich Hartknoch, Riga 1781, Seite 315. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Kant_Critik_der_reinen_Vernunft_315.png&oldid=- (Version vom 18.8.2016)