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Voltaire: Kandide. Erster Theil

haben, und demungeachtet doch nichts taugen könnte, bewies mit wenig Worten, daß es nicht genug sei, ein oder zwei Situationen anzubringen, die man in jedem Roman antrift, und die immer etwas Verführerisches für die Zuschauer haben, sondern daß man originell sein müsse, ohne phantastisch zu sein, erhaben, ohne unter den Sonnen herumzuwandeln, das Herz kennen, und es reden lassen, grosser Dichter sein, und doch aus keiner von seinen Personen den Dichter hervorstechen lassen, den ganzen Sprachschaz zu benuzen wissen, nie den Wohlklang vergessen, nie einen Gedanken dem Reim aufopfern. Wer all’ diese Regeln nicht sorgfältig in Acht nimmt, sezt’ er hinzu, kann zwar Trauerspiele verfertigen, die auf dem Theater gefallen, er wird aber nie einen Rang unter den guten klassischen Schriftstellern erhalten.

Gute Trauerspiele haben wir sehr wenige. Viele sind ganz wohldialogirte und wohlversifizirte Idyllen, andre ein herrliches Opiat von politischem Geträtsch’ oder artige Brechtränke von Schulchrieen; wieder andre das kunterbunteste Tollhäuslergewäsch; zerstükkelte Reden, lange Apostrophierungen an die Götter, (denn mit Menschenkindern wissen die Herren nicht zu sprechen) falsche Maximen, hochgeschraubte Gemeinpläze.

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Voltaire: Kandide. Erster Theil. Berlin: Christian Friedrich Himburg. 1782, Seite 137. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Kandide_(Voltaire)_137.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)