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Voltaire: Kandide. Erster Theil

gesehn habt; dazu haben die Nordischen Völker nicht heisses glühendes Blut genug; sie haben ja nicht einmal so viel Wut, als jedes Weib in Afrika. Bey Euch Europäern scheint Milchsaft in den Adern zu rinnen; Vitriol, Feuer hüpft, sprüzt durch jede Nerve bei den Bewohnern des Berges Atlas, und der benachbarten Gegenden.

Wütend wie die Löwen und Tiger und Schlangen dieses Landes, fielen sie sich an, und strebten uns einander abzukämpfen. Ein Mohr pakte meine Mutter beim rechten Arm, der Leutnant unsers Schifs ris sie beim Linken zurük; straks nam ein Schwarzer ihren einen Fus, einer unsrer Seeräuber zog sie beim andern nach sich. Und so wurden all’ unsre Frauenzimmer beinahe in Einem Nu von vier Soldaten angepakt.

Mein Hauptmann hatte mich hinter sich verstekt, und säbelte alles nieder, was sich zwischen ihn und seinen Grimm stellte. In Kurzem sah’ ich unsre Italienerinnen und meine Mutter von denen Ungeheuern zerrissen, zerhauen, zerfezt, die sich um ihren Besiz herumkämpften. Gefangne und Gefangennemer, Soldaten und Matrosen, Schwarze und Weisse und Mulatten, alles, alles wurde niedergemacht, endlich mein Hauptmann auch, und ich blieb sterbend auf einem Haufen von Todten liegen.

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Voltaire: Kandide. Erster Theil. Berlin: Christian Friedrich Himburg. 1782, Seite 57. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Kandide_(Voltaire)_057.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)