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     Selbst der alte Wäinämöinen,
Dieser ew’ge Zaubersprecher,
Schneidet Späne von der Erle,
Stellt die Späne dann in Ordnung,
Ging die Loose dann zu wenden,
Mit den Fingern sie zu kehren,
Redet Worte solcher Weise,
Läßt auf diese Art sich hören:
„Von dem Schöpfer frag’ ich Auskunft,

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Fordre ernstlich von ihm Antwort,

Sage wahrhaft, Loos des Schöpfers,
Rede du, des Gottes Zeichen,
Wohin ist die Sonn’ gerathen,
Wohin ist der Mond gefallen,
Da man nicht im Lauf der Zeiten
Beide an dem Himmel schauet?“
     „Sprich, o Loos, du nach der Wahrheit,
Sprich nicht nach dem Sinn des Mannes,
Bringe hieher wahre Worte

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Und erricht’ ein festes Bündniß!

Sollte mich das Loos belügen,
Werde ich’s nach unten werfen,
Werd’ ich’s in das Feuer schütten,
Daß das Zeichen dort verbrenne.“
     Bracht’ das Loos nun wahre Worte,
Gab der Männer Zeichen Antwort,
Sagte, daß die Sonn’ gerathen,
Daß der Mond hinabgesunken
In den Steinberg von Pohjola,

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In des Kupferberges Innre.

     Wäinämöinen alt und wahrhaft,
Redet Worte solcher Weise:
„Jetzo geh’ ich nach Pohjola,
Zu dem Pfad der Nordlandsöhne;
Bringe her den Mond zum Leuchten,
Bring’ der Sonne Gold zum Strahlen.“
     Gehet fort und eilt von dannen
Nach dem nimmerhellen Nordland,
Schreitet einen Tag, den zweiten,

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Endlich an dem dritten Tage

Kommt des Nordens Thor zum Vorschein,
Sind die Steineshügel sichtbar.
     Schreit zuvor mit allen Kräften
An dem Flusse von Pohjola:
„Schaffet hieher einen Nachen,
Daß ich durch den Fluß mag setzen!“
     Da sein Rufen man nicht höret,
Nicht das Boot zu ihm geschafft wird,
Sammelt Holz er einen Haufen,

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Blätter einer dürren Fichte,

Macht ein Feuer an dem Ufer,
Daß ein starker Rauch sich hebet;
Zu dem Himmel stieg das Feuer,
Und der Rauch dringt in die Lüfte.
     Louhi, sie, des Nordlands Wirthin,
Kommet selbst nun zu dem Fenster,
Schauet auf des Sundes Mündung,
Redet Worte solcher Weise:
„Was für Feuer brennet dorten,

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An der Mündung jenes Sundes?

Ist zu klein für Krieges Feuer,
Ist zu groß als Netzes Flamme.“
     Selbst der Sohn des Pohjaländers
Stürzet eilends zu dem Hofe,
Um zu schauen, um zu hören,
Um genauer Auskunft willen:
„An des Flusses anderm Ufer
Ist ein wackrer Held, der schreitet.“
     Rief der alte Wäinämöinen

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Darauf noch zum andern Male:

„Bring das Boot, o Sohn des Nordens,
Bring ein Boot dem Wäinämöinen!“
     Also sprach der Sohn des Nordens,
Redet selber diese Worte:
„Nicht sind müßig hier die Böte,
Brauch’ die Finger du zum Rudern,
Deine Hand als Steuerruder
Durch den Fluß im Land des Nordens!“
     Dacht’ der alte Wäinämöinen,

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Dachte nach und überlegte:

„Nicht wird als ein Mann der gelten,
Der sich von dem Wege wendet.“
Ging als Hecht dann in die Fluthen,
Als ein Schnäpel in das Wasser,

Empfohlene Zitierweise:
Elias Lönnrot, Anton Schiefner (Übers.): Kalewala, das National-Epos der Finnen. Helsingfors: J. E. Frenckell & Sohn, 1852, Seite 285. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Kalewala,_das_National-Epos_der_Finnen_-_285.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)