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Streift die Wolken mit dem Flügel,
Schlägt das Wasser mit dem andern.
     Sprach die schöne Wassermutter
Selber Worte solcher Weise:
„O du alter Wäinämöinen!

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Wende deinen Kopf zur Sonne,

Wirf die Augen hin nach Nordwest,
Schaue hinterwärts ein wenig!“
     Wandt’ der alte Wäinämöinen
Seinen Kopf nun hin zur Sonne,
Warf die Augen hin nach Nordwest,
Schaute hinter sich ein wenig;
Schon erscheint des Nordlands Alte,
Kommt der sonderbare Vogel,
An der Schulter wie ein Habicht,

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Wie ein Adler an dem Körper.

     Schon erreicht er Wäinämöinen,
Flieget zu des Mastbaums Spitze,
Klettert auf die Segelstange,
Setzt sich auf des Mastes Ende;
Nah dem Stürzen war der Nachen,
Auf die Seite neigt das Schiff sich.
     Nimmt der Schmieder Ilmarinen
Nun zum Höchsten seine Zuflucht,
Wendet bittend sich zum Schöpfer,

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Redet Worte solcher Weise:

„Schütze du, o starker Schöpfer,
Hüte du, o Gott voll Schönheit,
Daß der Sohn nicht fortgerathe,
Nicht der Mutter Kind verkomme
Aus der Zahl, die du geschaffen,
Aus der Schaar des höchsten Gottes!“
     „Ukko, Gott du voller Klarheit,
Selbst du, Vater in dem Himmel!
Bring mir einen Pelz voll Feuer,

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Bring ein Hemd mir voller Hitze,

Daß ich so geschützet kämpfe,
So geschirmet mich dann schlage,
Daß mein Kopf nicht übel fahre,
Nicht das Haar verwirret werde
In dem Spiel des blanken Eisens,
Bei des wilden Stahles Stoßen!“
     Selbst der alte Wäinämöinen
Redet Worte solcher Weise:
„O du Wirthin von Pohjola!

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Willst du nun den Sampo theilen

An der nebelreichen Spitze,
Auf dem waldungsreichen Eiland?“
     Sprach die Wirthin von Pohjola:
„Werde nicht den Sampo theilen,
Nicht mit dir, du Unglücksel’ger,
Nicht mit dir, o Wäinämöinen.“
Selber greift sie nach dem Sampo
Aus dem Boote Wäinämöinen’s.
     Zog der muntre Lemminkäinen

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Nun das Schwert aus seinem Gurte,

Rafft das scharfgeschliffne Eisen
Von der linken Seit’ behende,
Hauet auf des Adlers Krallen,
Schlägt scharf los auf seine Klauen.
     Haut der muntre Lemminkäinen,
Haut und spricht dabei die Worte:
„Nieder Männer, nieder Schwerter,
Nieder mit den schwachen Helden,
Hundert Männer in den Flügeln,

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Zehn auf jeder Kralle Spitze.

     Sprach die Alte von Pohjola,
Redet’ von des Mastbaums Spitze:
„O du muntrer Lemminkäinen,
Kauko, du, o armer Knabe!
Hast die Mutter selbst betrogen,
Hast die Alte sehr belogen;
Wolltest nicht zum Kriege ziehen,
In dem Lauf von sechszig Sommern,
Wenn dich auch die Lust zum Golde,

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Dich die Lust nach Silber triebe.“

     Wäinämöinen alt und wahrhaft,
Dieser ew’ge Zaubersprecher,
Glaubte, daß die Zeit gekommen,
Daß die Stunde sei erschienen;
Rafft das Steuer aus dem Meere,
Zieht den Eichspan aus den Fluthen,
Schlägt damit nun los auf’s Unthier,
Hauet ab des Adlers Krallen;

Empfohlene Zitierweise:
Elias Lönnrot, Anton Schiefner (Übers.): Kalewala, das National-Epos der Finnen. Helsingfors: J. E. Frenckell & Sohn, 1852, Seite 253. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Kalewala,_das_National-Epos_der_Finnen_-_253.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)