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     Sprach darauf zu seinem Bruder:
„Lebe wohl, geliebter Bruder!
Wirst du wohl um mich einst weinen,
Hörest du, ich sei gestorben,
Aus dem Stamme hingesunken,
Aus dem Hause fortgestürzet?“
     Sprach der Bruder solche Worte:
„Nimmer werd’ ich um dich weinen,
Höre ich, daß du gestorben;

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Werd’ mir einen Bruder schaffen,

Einen vielfach bessern Bruder,
Einen noch einmal so schönen.“
     Kullerwo, der Sohn Kalerwo’s,
Redet Worte solcher Weise:
„Werde auch um dich nicht weinen,
Höre ich, daß du gestorben;
Werd’ mir einen Bruder machen,
Mund und Kopf aus Lehm und Steinen,
Augen aus des Sumpfes Beeren,

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Haare ihm aus trocknen Stoppeln,

Füße ihm aus Weidenzweigen,
Fleisch ihm aus verfaulten Bäumen.“
     Sprach darauf zu seiner Schwester:
„Lebe wohl, geliebte Schwester!
Wirst du wohl um mich einst weinen,
Hörest du, daß ich gestorben,
Aus dem Stamme hingesunken,
Aus dem Hause fortgestürzet?“
     Also redete die Schwester:

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„Nimmer werd’ ich um dich weinen,

Höre ich, daß du gestorben;
Werde einen Bruder suchen,
Einen vielfach bessern Bruder,
Der bei weitem einsichtsvoller.“
     Kullerwo, der Sohn Kalerwo’s,
Redet Worte solcher Weise:
„Werde auch um dich nicht weinen,
Höre ich, daß du gestorben;
Werd’ mir eine Schwester machen,

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Mund und Kopf aus Lehm und Steinen,

Augen aus des Sumpfes Beeren,
Haare ihr aus dürren Stoppeln,
Ohren aus des Teiches Blumen
Und den Leib aus Ahornzweigen.“
     Sprach darauf zu seiner Mutter:
„Liebe Mutter, meine Theure,
Schöne, die du mich getragen,
Goldne, die du mich gegängelt!
Wirst du, Mutter, um mich weinen,

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Hörest du, ich sei gestorben,

Aus dem Stamme hingestürzet,
Aus dem Hause hingesunken?“
     Sprach die Mutter diese Worte,
Ließ sich selber also hören:
„Nicht kennst du den Sinn der Alten,
Nicht das Herz der armen Mutter;
Werde bitter um dich weinen,
Höre ich, daß du gestorben,
Aus dem Volke du verschwunden,

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Aus dem Stamme hingesunken;

Weine, daß die Stube fließet,
Daß der Boden reichlich fluthet,
Werd’ auf jeder Gasse weinen,
Niederkauernd, in dem Stalle,
Weine, daß der Schnee zergehe,
Daß der Boden sich erweiche,
Daß die Erde dann ergrüne,
Durch den Rasen Bäche rieseln.“
     „Sollte ich nicht weinen können

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Und des Klagens müde werden

Vor den Augen aller Leute,
Wein’ ich in der Badstub’ Stille,
Daß die Sitze, daß die Bretter
Auf den Thränenfluthen schwimmen.“
     Kullerwo, der Sohn Kalerwo’s,
Er, der Knab’ mit blauen Strümpfen,
Ging nun blasend fort zum Streite,
Zog voll Jubel zu dem Kampfe,
Blasend durch das Feld und Sümpfe,

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Tobet auf den Heidestrecken,

Rauschet durch die Kräuterfelder,
Raschelt in den dürren Stoppeln.
     Folgt’ ein Bote seinen Spuren,
Zu den Ohren kam die Nachricht:

Empfohlene Zitierweise:
Elias Lönnrot, Anton Schiefner (Übers.): Kalewala, das National-Epos der Finnen. Helsingfors: J. E. Frenckell & Sohn, 1852, Seite 218. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Kalewala,_das_National-Epos_der_Finnen_-_218.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)