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Kullerwo nannt’ ihn die Mutter,
Untamo ihn Kampfes Perle.
     Ward der kleine Knab’ geleget,
Ward das Kind, das vaterlose,
In die Wiege nun gebettet,
Daß es dort geschaukelt werde.
     Schaukelt sich dort in der Wiege,
Schaukelt, daß das Haar sich hebet
Einen Tag und auch den zweiten,

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Aber schon am dritten Tage

Schlug der Knabe mit den Füßen,
Schlug nach vorne, schlug nach hinten,
Sprengt mit Macht die Wickelbänder,
Kriecht heraus auf seine Decke,
Schlägt die Lindenwieg’ in Stücke
Und zerreißet alle Windeln.
     Schien als wollt’ er gut gedeihen
Und versprach ein Mann zu werden;
Untamola schon erwartet,

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Daß, wenn er erst groß gewachsen,

Er Verstand und Kraft bekommen,
Er ein rechter Mann geworden,
Er ein Knecht von hundertfachem,
Tausendfachem Werthe werde.
     Wuchs nun zwei und drei der Monde,
Aber schon im dritten Monde
Als ein Knab von Knieeshöhe
Fing er also an zu meinen:
„Wenn ich größer bin geworden,

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Wenn mein Körper Kraft bekommen,

Möcht’ ich meines Vaters Schmerzen,
Meiner Mutter Lied ich rächen.“
     Untamoinen hört die Worte,
Redet selbst auf diese Weise:
„Meinem Haus bringt er Verderben,
In ihm wächst Kalerwo wieder.“
     Überlegen thun die Männer
Und die Weiber alle rathen,
Wo den Knaben hin man stecken,

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Wie zum Tode schaffen könnte.

     Ward gesetzet in ein Fäßlein,
In ein Tönnlein eingesperret,
Zu dem Wasser so geführet,
In die Fluthen so gesenket.
     Darauf ging man zu zuschauen
Nach Verlauf von zweien Nächten,
Ob im Wasser er versunken,
Ob im Faß er umgekommen.
     War im Wasser nicht ertrunken,

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Nicht im Fasse umgekommen,

Aus dem Faß war er gekrochen,
Saß nun auf der Wogen Rücken,
In der Hand ein Kupferstöcklein,
An der Spitz’ ein Seidenschnürchen,
Angelte des Meeres Fische,
Und durchmißt des Meeres Wasser:
Wasser ist im Meer’ ein Bißchen,
Daß es zwei der Löffel füllet,
Würde richtig es gemessen,

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Käm’ ein wenig auf den dritten.

     Untamoinen überlegte:
„Wohin soll man mit dem Knaben,
Wie in Unglück ihn versetzen,
Daß der Tod ihn dort ereile?“
     Er befahl dem Knecht zu sammeln
Hartes Holz von trocknen Birken,
Tannen mit viel hundert Zweigen,
Bäume, die mit Harz gefüllet,
Um den Knaben zu verbrennen,

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Kullerwo zu Grund’ zu richten.

     Aufgestappelt und gesammelt
Wurde trocknes Holz der Birke,
Tannen mit viel hundert Zweigen,
Bäume, die mit Harz gefüllet,
Tausend Schlitten voll mit Rinde,
Hundert Klafter dürrer Eschen;
Feuer auf das Holz geworfen,
Auf den Haufen ausgebreitet,
Dorthin dann der Knab’ geschleudert,

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Mitten in die Gluth des Feuers.

     Brannte einen Tag, den zweiten,
Brannte noch am dritten Tage,
Hin ging man um zuzuschauen:
Bis zum Knie saß er in Asche,

Empfohlene Zitierweise:
Elias Lönnrot, Anton Schiefner (Übers.): Kalewala, das National-Epos der Finnen. Helsingfors: J. E. Frenckell & Sohn, 1852, Seite 194. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Kalewala,_das_National-Epos_der_Finnen_-_194.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)