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Dreißigste Rune.


     Ahti, dieser einz’ge Bursche,
Er, der muntre Lemminkäinen,
Geht des Morgens in der Frühe,
Zu der Zeit der ersten Dämmrung
Zu der Schiffe Lagerstätte,
Zu dem Stapelplatz der Böte.
     Dorten weint das Boot aus Brettern,
Stöhnt der Eisenhakennachen:
„Muß, o Ärmster, hier nun liegen,

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Muß gar elend hier vertrocknen:

Ahti rudert nicht zum Kriege,
Nicht im Lauf von sechzig Jahren,
Sollte er auch Lust nach Silber
Und nach Gold Verlangen haben.“
     Schlug der muntre Lemminkäinen
Auf das Boot mit seinem Handschuh,
Mit dem schönverbrämten Handschuh,
Redet selber diese Worte:
„Sorge nicht du Tannenreiche

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Mit den leistenreichen Seiten,

Wirst schon noch zum Kriege ziehen,
Zu dem Kampfe dich bewegen,
Bist vielleicht schon voll von Kriegern
Bei des nächsten Tages Ende.“
     Ging nun hin zu seiner Mutter,
Redet selber diese Worte:
„Weine, nicht, o liebe Mutter,
Sorge nicht, o theure Alte,
Wenn ich jetzt von dannen gehe,

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Zu dem Kampfplatz mich bewege;

Meinen Sinn erfaßt der Einfall,
Mein Gehirn faßt der Gedanke,
Daß des Nordens Volk ich tilge,
An den Schlechten Rache nehme.“
     Abzuhalten sucht die Mutter,
Warnet ihren Sohn die Alte:
„Gehe nicht, mein liebes Söhnchen,
Zu dem Kampfe nach Pohjola!
Dorten könnte Tod dich treffen,

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Könnt’ Verderben dich ereilen.“

     Wenig achtet’s Lemminkäinen,
Dachte nur daran zu gehen
Und gelobte aufzubrechen,
Redet Worte solcher Weise:
„Woher fänd’ ich einen andern,
Einen Mann sammt seinem Schwerte
Mir zur Hülfe in dem Kampfe,
Mir, dem Kräftigen, zum Beistand?“
     „Hab’ von Tiera wohl gehöret,

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Hab’ von Kuura wohl vernommen,

Diesen nehme ich als andern,
Diesen Mann mir sammt dem Schwerte,
Mir zur Hülfe in dem Kampfe,
Mir, dem Kräftigen, zum Beistand.“
     Wandert’ durch die Dörferreihe
Hin am Weg’ zum Hof Tiera’s,
Sprach, als er dorthin gekommen,
Redet, als er dort erschienen:
„Tiera, du mein Herzensfreundchen,

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Mein Geliebter, du mein Theurer!

Denkst du noch an alte Zeiten,
Was wir beide einst erlebten,
Als wir zogen in Gemeinschaft
Auf die großen Kampfgefilde;
Gab da wohl nicht eins der Dörfer,
Wo nicht zehn der Höfe waren,
War dort wohl der Höfe keiner,
Wo nicht zehn der Helden waren,
Gab dort wohl der Helden keinen,

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Keinen von den starken Männern,

Den wir beide nicht getödtet,
Den wir nicht gestürzet hätten.“
     An dem Fenster saß der Vater,
Schnitzte dort am Schaft des Speeres,
Auf der Kammer Schwell’ die Mutter,
Lärmte mit dem Butterfasse,
An der Pforte war der Bruder,
Zimmerte an einem Schlitten,
An der Brücke End’ die Schwestern,

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Wuschen dort verschiedne Tücher.
Empfohlene Zitierweise:
Elias Lönnrot, Anton Schiefner (Übers.): Kalewala, das National-Epos der Finnen. Helsingfors: J. E. Frenckell & Sohn, 1852, Seite 187. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Kalewala,_das_National-Epos_der_Finnen_-_187.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)