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Hundert Klafter in der Erde,
Tausend Klafter hin zum Himmel,
Speere waren die Staketen,
Ganz mit Schlangen sie durchflochten
Und mit Nattern festgebunden,

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Sie mit Eidechsen durchwunden,

Ließen ihre Schwänze hängen,
Rauschend ihre Köpfe zischen,
Ihre starken Schädel schweben,
Ihre Schwänze blieben drinnen.
     Selbst der muntre Lemminkäinen
Fing nun selbst an nachzudenken:
„Ist wie’s meine Mutter sagte,
Wie die Alte wiederholte:
Ist hieselbst ein Zaun gar stattlich

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Von der Erde bis zum Himmel,

Tief zwar kriechen unten Schlangen,
Tiefer ist der Zaun gezogen,
Hoch zwar fliegen oben Vögel,
Höher ist der Zaun gezogen.“
     Dennoch war nicht Lemminkäinen
Da in Noth und in Bedrängniß,
Holt sein Messer aus der Scheide,
Holt hervor das wilde Eisen,
Hauet auf den Zaun mit Hitze,

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Bricht denselben bald in Stücke,

Macht ein Loch im Eisenzaune,
Stürzt die starke Natterhürde
Zwischen fünf der Zaunstaketen,
Zwischen sieben hohen Stangen;
Selber fährt er darauf weiter
Zu dem Thore von Pohjola.
     Auf dem Wege lagen Schlangen
Quergelagert an dem Eingang,
Länger als die Stubenbalken,

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Dicker als die Eingangsstützen,

Hundert Augen an den Schlangen,
Tausend Zungen an den Nattern,
Augen von des Siebes Größe,
Zungen dick wie Speeresschafte,
Zähne wie der Stiel der Harke,
Rücken breit wie sieben Böte.
     Nicht getraut sich Lemminkäinen
Graden Weges loszugehen
Auf die hundertäug’gen Schlangen,

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Auf die tausendzüng’gen Nattern.

     Sprach der muntre Lemminkäinen,
Er’ der schöne Kaukomieli:
„Schwarze Schlange, Erdensclavin,
Natter mit Tuoni’s Farbe,
Die du in den Stoppeln schleichest,
An der Lempoblume Wurzel,
Durch den Rasen dich bewegest,
An der Bäume Wurzel kriechest!
Wer wohl sandt’ dich aus den Stoppeln,

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Trieb dich von des Grases Wurzeln

Auf dem Boden hier zu kriechen,
Auf dem Wege hier zu schleichen?
Wer entsandte deinen Rachen,
Wer befahl dir und verlangte,
Daß den Kopf empor du höbest,
Daß du mit dem Schwanz dich regtest,
War’s dein Vater, deine Mutter,
War’s der älteste der Brüder,
War’s die jüngste deiner Schwestern,

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War’s ein andrer Stammverwandter?“

     „Schließ den Schlund, den Kopf verstecke,
Und verbirg die leichte Zunge,
Wickle dich nun ganz zusammen
Rolle dich zu einer Rolle,
Gieb den Weg mir, gieb den halben,
Laß den Wandrer weiter ziehen,
Oder gehe fort vom Wege,
Gehe, Böse, in’s Gestrüppe,
Weiche fort in Heidekräuter,

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Geh, verbirg dich in dem Moose,

Ziehe fort, wie Flachs gewickelt,
Wie ein leichter Scheit der Espe!
Stecke deinen Kopf in Rasen,
Wirf ihn hastig auf die Hügel,
In dem Torf ist deine Wohnung,
Unter Rasen deine Stätte;
Hebest du den Kopf von dorten,
Wird ihn Ukko dir zerschlagen

Empfohlene Zitierweise:
Elias Lönnrot, Anton Schiefner (Übers.): Kalewala, das National-Epos der Finnen. Helsingfors: J. E. Frenckell & Sohn, 1852, Seite 167. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Kalewala,_das_National-Epos_der_Finnen_-_167.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)