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     Wäinämöinen alt und wahrhaft,
Dieser ew’ge Zaubersänger,
Redet Worte solcher Weise,
Läßt auf diese Art sich hören:
„O du Beil mit scharfem Schnabel,

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O du Axt mit ebner Schneide,

Solltest in die Bäume beißen,
Solltest in die Tannen hauen,
An die Fichten dich wohl machen,
Birken anzufeinden streben,
Nicht ins Fleisch auf die Art fahren,
Nicht die Adern so zerschneiden!“
     Hob dann an mit Zaubersprüchen,
Selbst beginnt er da zu sprechen
Ursprungsworte für die Übel,

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Jedes Grundwort recht vollkommen,

Nicht besinnt er sich auf ein’ge
Große Worte von dem Eisen,
Daß er einen Riegel schaffe
Und ein festes Schloß bereite
Jenen Wunden durch das Eisen,
Die der blaue Mund gerissen.
     Schon in Bächen floß der Blutstrahl,
Brauste wie ein Strom voll Lärmen,
Er bedeckt der Beeren Stengel,

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Und die Kräuter auf den Fluren;

Gab gewiß dort keinen Rasen,
Der nicht überschwemmet worden
Von dem übermächt’gen Blutstrom,
Der gar rauschend vor sich jagte
Aus dem Knie des braven Helden,
Aus der Zehe Wäinämöinen’s.
     Wäinämöinen alt und wahrhaft
Pflückte Flechten von den Steinen,
Sammelt Moos sich aus dem Sumpfe,

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Rupfet Rasen von dem Boden

Um das große Loch zu stopfen,
Um die Wunde zu verschließen,
Brachte aber nichts zu Stande,
Kann das Blut durchaus nicht stillen.
     Wurde von dem Schmerz gedrücket,
Schon empfand er große Mühsal;
Wäinämöinen alt und wahrhaft
Fing gar heftig an zu weinen,
Schirrte dann sein Roß behende,

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Spannt das braune vor den Schlitten,

Setzt sich selber dann mit Mühe
Und erhebet sich im Schlitten.
     Schlug das Roß mit seiner Gerte,
Klatschte mit der prächt’gen Peitsche;
Munter lief das Roß von dannen,
Daß der Weg gar bald entschwindet,
Bis er auf ein Dorf gestoßen,
Wo der Weg sich dreifach theilet.
     Wäinämöinen alt und wahrhaft

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Fuhr den untersten der Wege

Hin zum untersten der Höfe,
Fragte an der Schwelle stehend:
„Ist wohl in dem Hause jemand,
Der des Eisens Thaten schauen,
Der des Helden Schmerz erkennen,
Der die Wunde heilen könnte?“
     Saß ein Knabe auf dem Boden,
An dem Ofen dort ein Kindlein;
Gab zur Antwort diese Worte:

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„Niemand ist in diesem Hause,

Der des Eisens Thaten schauen,
Der des Helden Schmerz erkennen,
Der dem Leid ein Ende setzen,
Der die Wunde heilen könnte;
Wohnt vielleicht in anderm Hause,
Fahre du zu anderm Hause.“
     Wäinämöinen alt und wahrhaft
Schlug das Roß mit seiner Gerte,
Rauschte hurtig fort des Weges,

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War ein wenig nur gefahren

Auf dem mittelsten der Wege
Zu dem mittelsten der Höfe,
Fragte an der Schwelle stehend,
Forschte also an dem Fenster:
„Ist wohl in dem Hause jemand,
Der des Eisens Thaten schauen,
Der den Blutfluß hemmen könnte,
Der den Adern Strömung stillte?“

Empfohlene Zitierweise:
Elias Lönnrot, Anton Schiefner (Übers.): Kalewala, das National-Epos der Finnen. Helsingfors: J. E. Frenckell & Sohn, 1852, Seite 38. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Kalewala,_das_National-Epos_der_Finnen_-_038.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)