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„O unglückliches Geschöpf, im Kriege, in Hungersnoth und Aufruhr geboren, für was von diesen dreien soll ich dich denn aufsparen? 206 Bei den Römern sind wir nur Sclaven, wenn wir schon unter ihren Händen nicht sterben müssen. Der Sclaverei aber droht schon der Hunger zuvorzukommen, und schrecklicher als beide sind unsere Rebellen! 207 Nun wohlan, werde jetzt eine Speise für deine Mutter, ein blutiges Gespenst für die Aufrührer, eine Schreckenssage für die ganze Welt, in der sich das ganze Leidensmeer der Juden erschöpfen soll!“ 208 Mit diesen Worten schlachtet sie ihr Söhnlein, brät es dann und verzehrt davon die Hälfte, den Rest wickelt sie ein, um ihn noch aufzusparen. 209 Gleich waren auch wieder die Rebellen zur Stelle, und wie sie nun den Duft des grässlichen Bratens einschlürften, drohten sie, die Frau augenblicklich niederzustechen, wenn sie nicht mit ihrem angerichteten Mahl herausrücken wollte. „Ich habe euch“, antwortete die Frau, „noch ein schönes Stück aufbehalten!“ Bei diesen Worten nahm sie die Decke von den Ueberbleibseln des Kindes. 210 Schauder und sinnverwirrendes Entsetzen packte die Banditen, und sie standen starr vor Schrecken. Darauf die Frau: „Was hat es? Ists doch nur mein eigen Kind, und nur meine Hand hat das Gericht bereitet! Greift nur zu: auch ich habe schon davon gegessen! 211 Seid doch nicht weichherziger, denn ein Weib, und mitleidiger, als eine Mutter! Habt ihr aber schon ein so fromm’ Gemüth und möget ihr mein Opferlämmlein nicht kosten, mir soll’s recht sein: ich habe schon die eine Hälfte gegessen, und so soll mir auch die andere bleiben!“ 212 Zitternd enteilten die Raubgesellen: es war das erstemal, dass sie zitterten, und nur der äußerste Abscheu zwang sie, diesmal der Mutter ihre Speise zu lassen! Blitzschnell erfüllte die Kunde von dieser abscheulichen That die ganze Stadt, und jedermann erschauerte vor dem blutigen Ereignis, das ihm nicht von der Seele wollte, gerade so, als ob das Ungeheure bei ihm selbst eingekehrt wäre. 213 Die Hungernden hatten von jetzt nur ein Verlangen mehr: „Nur sterben!“ und selig pries man jene, die schon früher hinübergegangen, ehe sie solch’ grauenhaftes Leid hatten hören oder schauen müssen.

214 (5). Rasch verbreitete sich das schreckliche Gerücht auch im römischen Lager, wo es von den einen mit ungläubigem Kopfschütteln, von andern mit Empfindungen des Mitleides aufgenommen ward, während es bei den Meisten nur die Wirkung hatte, den schon vorhandenen Hass gegen die jüdische Nation aufs höchste zu steigern. 215 Der Cäsar lehnte auch diesmal feierlich vor Gott jede Verantwortung für die Unthat ab und erklärte entschieden: „Ich habe den Juden Frieden, Freiheit und alle gemeine Amnestie ihrer Verbrechen angeboten: 216 sie aber haben statt der

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Flavius Josephus: Jüdischer Krieg. Linz: Quirin Haslingers Verlag, 1901, Seite 464. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:JosephusBellumGermanKohout.djvu/464&oldid=- (Version vom 1.8.2018)