es noch etwas Erhabeneres zum Zerstören für sie gäbe, als das Heiligthum! So haben sie nun den festesten Punkt der Stadt in ihrer Gewalt – 172 ich meine den Tempel, der sich nunmehr den Namen einer „Burg“ oder „Festung“ gefallen lassen muss. Jetzt, nachdem ihr eine so ungeheuerliche Tyrannei auch noch in einer Trutzburg in eurer Mitte habt und eure Feinde ober eurem Haupte sehen müsst, was berathschlagt ihr noch und womit wollt ihr denn noch länger euren Hoffnungen schmeicheln? 173 Wartet ihr etwa auf die Römer, damit diese unserem Heiligthum Hilfe bringen? Also steht es so mit unserer Stadt, und ist es so weit schon mit uns gekommen, dass sich sogar die Feinde unserer erbarmen müssen? 174 Ihr dreimal Elenden, werdet ihr euch nicht endlich aufraffen und, was bekanntlich selbst die wilden Thiere thun, auf die Hiebe euch umwenden, um euch eurer Peiniger zu erwehren? Ueberkommt euch denn keine Erinnerung mehr an das, was jeder einzelne von euch für sich allein schon erlitten hat, und schweben die ausgestandenen Leiden wirklich nicht mehr vor euren Augen, um die ganze Schärfe eurer Rache gegen sie herauszufordern? 175 So ist denn bei euch gänzlich erstorben das heiligste und natürlichste Gefühl, die Liebe zur Freiheit? Sclavenseelen und knechtische Kriecher sind wir geworden, als hätten wir den gekrümmten Rücken schon von unseren Ahnen her erhalten. 176 Doch nein! jene haben vielmehr zahlreiche und schwere Kämpfe für ihre Unabhängigkeit durchgefochten und haben weder dem Joche der ägyptischen noch der medischen Herrschaft sich gebeugt, um ja von Niemand Befehle annehmen zu müssen. 177 Aber wozu auf die Vorfahren zurückgreifen? Was hat denn doch nur der gegenwärtige Krieg mit den Römern, bei dem ich nicht erörten will, ob er vortheilhaft und nützlich oder das Gegentheil sei, was hat denn derselbe nur, sage ich, für einen Beweggrund? Ist es nicht die Freiheit? 178 Sonach wollten wir also zwar die Herren der Welt nicht mehr dulden, wohl aber die Tyrannei unserer Stammesgenossen uns gefallen lassen. 179 Es dürfte indes verzeihlich sein, wenn Jemand einem auswärtigen Herrn gehorcht, weil ihn eben einmal sein Glücksstern verlassen hat, aber dem Schurken im eigenen Hause den Platz räumen, das ist gemein, weil selbstgewollt. 180 Nachdem ich schon gelegentlich der Römer gedacht habe, so will ich offen vor euch aussprechen, was mir soeben unter der Rede eingefallen ist und meinen Geist lebhaft in Anspruch genommen hat: dass wir nämlich, auch wenn wir in ihre Hand fallen sollten – möchte ich hier ein falscher Prophet sein! – jedenfalls nichts schlimmeres mehr zu gewärtigen haben, als was diese Leute uns angethan haben. 181 Oder wie? ist es nicht ein Schauspiel, das uns die Thränen auspressen muss, wenn wir im Heilig-
Flavius Josephus: Jüdischer Krieg. Linz: Quirin Haslingers Verlag, 1901, Seite 316. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:JosephusBellumGermanKohout.djvu/316&oldid=- (Version vom 1.8.2018)