349 Endlich, bemerkte Nikanor noch, würde weder Vespasian ihm seinen Freund geschickt haben, wenn er Hintergedanken hätte, um auf solche Art das Edelste, was es gäbe, die Freundschaft, zum Deckmantel für das schwärzeste Verbrechen, die Treulosigkeit, zu benützen, noch würde er selbst seinen Auftrag angenommen haben, um einen Freund zu überlisten.
350 (3.) Als Josephus auch auf das Zureden Nikanors hin noch immer schwankte, wollte sich schon die gereizte Soldateska aufmachen, um mit Feuerbränden die Höhle auszuräuchern. Aber der Heerführer, der viel darum gab, den Mann lebendig zu bekommen, hielt sie noch zurück. 351 Unterdessen lag Nikanor dem Josephus unausgesetzt an, und musste letzterer auch bereits die Drohungen der feindlichen Scharen vernehmen, als ihm mit einemmale die Erinnerung an jene nächtlichen Gesichte aufstieg, in denen ihm Gott die über die Juden hereinbrechenden Unglücksschläge und die künftigen Geschicke der römischen Kaiser vorausverkündigt hatte. 352 Denn Josephus beschäftigte sich auch mit der Traumdeutung und war imstande, die dunkelsten Aussprüche der Gottheit auszulegen. Waren ihm ja doch als Priester und Priestersprössling die Weissagungen der heiligen Bücher kein unbekanntes Land! 353 So richtete er denn zur selben Stunde, vom Wehen Gottes ergriffen und aufs neue vom Schauer der jüngsten Traumbilder durchrieselt, aus der Stille seines Herzens folgendes Gebet an Gott: 354 „Da dir, o Schöpfer des jüdischen Volkes, es also wohlgefällt, dasselbe bis in den Staub zu beugen, und alles Glück sich auf die Seite Roms gewendet hat, da du ferner meine Seele auserwählt hast, das Kommende zu enthüllen, so übergebe ich freiwillig den Römern meine Hände, um zu leben. Du aber bist mein Zeuge, dass ich nicht als Verräther, sondern als dein Diener zu ihnen übergehe.“
355 (4.) Mit diesen Worten ergab er sich dem Nikanor. Als aber die Juden, die mit ihm im selben Verstecke waren, sehen mussten, wie er der Aufforderung Folge leisten wollte, da scharten sie sich um ihn und schrien: 356 „Seufzet auf und stöhnet, ihr Gesetze unserer Väter, und Gott selbst möge sein Antlitz verhüllen, derselbe Gott, welcher den Juden einst eine Seele voll Todesverachtung eingehaucht hat! 357 Wie, Josephus, so feige hängst du am Leben und kannst es über dich bringen, als Sclave das Licht der Sonne zu schauen? O wie schnell hast du dich selbst vergessen! Wie viele hat einst dein Wort begeistert, für die Freiheit zu sterben! 358 Also eitel Lüge ist der Ruhm der Mannhaftigkeit, eitel Lüge der Ruhm der Verständigkeit, der dich einst zierte! Oder kannst du wohl als verständiger Mann bei jenen Rettung hoffen, die du einst so erbittert bekämpft hast? Und wenn du auch sicher
Flavius Josephus: Jüdischer Krieg. Linz: Quirin Haslingers Verlag, 1901, Seite 274. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:JosephusBellumGermanKohout.djvu/274&oldid=- (Version vom 19.2.2020)