mehr zur Belagerung ansporne, weil sie um jeden Preis seiner Person habhaft werden möchten. Würden sie hingegen erfahren, dass der Vogel ausgeflogen sei, so dürften sie wohl in ihrem Eifer für die Belagerung stark nachlassen. 201 Statt die Volksmenge zu überzeugen, hatten diese Worte nur die Wirkung, dass sie sich noch heißer um ihn drängte: Knaben, Greise und Frauen mit ihren kleinsten Kindern fielen weheklagend vor ihm nieder, umschlangen insgesammt seine Füße und wollten ihn nicht loslassen, 202 indem sie ihn unter lautem Schluchzen bestürmten, sich doch von ihrem Schicksale nicht zu trennen – nicht als ob sie ihn um seine Rettung beneidet hätten, wie ich glaube, sondern weil sie von ihm allein noch die eigene erwarteten. Denn sie waren der Meinung, dass, solange Josephus bei ihnen wäre, ihnen überhaupt nichts geschehen könnte.
203 (17.) Josephus verhehlte sich nicht, dass dieselben Leute, wenn er ihnen nachgäbe, seine Schützlinge bleiben, wenn er sich ihnen aber widersetzen wollte, eine beständige Gefangenwache für ihn bedeuten würden. Da überdies das Mitleid mit ihrem Jammer seinen festen Entschluss zu fliehen schon stark erschüttert hatte, so beschloss er nunmehr zu bleiben, 204 und wappnete sich mit dem Muthe der Verzweiflung, der die ganze Stadt ergriffen hatte. Mit den Worten: „Jetzt, wo keine Hoffnung auf Rettung mehr winkt, ist es an der Zeit, einen Kampf zu beginnen, in welchem man das Leben mit einem herrlichen Ruhmeskranz vertauschen und durch eine glorreiche That sich das Andenken der spätesten Geschlechter sichern kann!“ mit diesen Worten stürzte er sich in den Kampf 205 und brach mit seinen besten Kriegern aus den Thoren hervor. Die römischen Wachen warf er über den Haufen und stürmte dann bis zum Lager hinab, wobei er die Lederdecken über den Wallarbeitern, unter denen sich die Römer schützten, auseinanderriss und Feuer in die Werke schleuderte. 206 So machte er es auch am zweiten und dritten Tage und setzte diese Ausfälle noch eine ganze Reihe von Tagen und Nächten ohne Ermatten fort.
207 (18.) Die Römer kamen bei diesen Ausfällen sehr zu Schaden, da auch in schlimmer Lage der Ehrgeiz ihnen verbot, vor den Juden zurückzuweichen, im Falle aber die Juden geworfen wurden, die Sieger wegen ihrer schwerfälligen Rüstung denselben nur langsam zu folgen vermochten, während umgekehrt die Juden den Belagerern, ohne selbst ernstlich mitgenommen zu werden, jedesmal einen empfindlichen Streich spielen und schnell genug wieder die Stadt gewinnen konnten. 208 Aus diesem Grunde ließ nun Vespasian an die Schwerbewaffneten die Weisung ergehen, vor den anstürmenden Juden sich zurückzuziehen und mit Leuten, die nur den Tod suchten, sich in kein Handgemenge
Flavius Josephus: Jüdischer Krieg. Linz: Quirin Haslingers Verlag, 1901, Seite 259. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:JosephusBellumGermanKohout.djvu/259&oldid=- (Version vom 1.8.2018)