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J. P. Jordan: Jahrbücher für slawische Literatur, Kunst und Wissenschaft. Erster Jahrgang

des früheren Jahrhunderts, der Materialismus und das Streben der Regierung, alle Kräfte zu beherrschen, um sie nach diesem Ziele zu leiten. Die Czechen haben ihre Sendung unter den Slawen erkannt; sie sollen die Vorkämpfer derselben auf dem Felde der Wissenschaft sein. Die Idee Polens ist die Idee des Messianismus, concentrirt in einem einzigen Menschen, den die Nation erwartet (die übrigen slawischen Völkerschaften werden als nichtstimmführend gar nicht erwähnt). Auf diese Weise sind nur die beiden wirklichen Slawenstämme berufen, in die Räder der Politik einzugreifen. Durch den Gang der Geschichte ist das tatarische „Alla!“ der Ton geworden, den die russische Nation anschlägt; der ritterlich-christliche Grundton der polnischen Nation dagegen ist ermattet, seit das Mittelalter eine andere Wendung genommen. Russland fand an Napoleon einen überlegenen Gegner; allein er vermochte es nicht zu beugen. Polen, das zu anderen Grundsätzen sich bekennt, als welche die Philosophie des Westen lehrt, hofft einen Messias in seiner Mitte zu erwecken, der die grossen Fragen des Slawenthums entscheidet; das haben seine Dichter und grössten Männer vorher verkündet. Mickiewicz führt ihre oft merkwürdigen Prophezeiungen an und schliesst seine Vorträge mit den Worten Brodzinski’s: „Und darum wachet also, all’ ihr Mütter, und all’ ihr Lehrmeister und Prediger! jede lebende polnische Seele sehne sich und wache; denn du weisst weder den Ort noch die Stunde, wo du berufen wirst. Ein Jeder wache, der gemeine Mann wie der Weise, der entschlossene Held wie das schwache Weib. Er horche, wo das Gras wächst und beachte jedes Wehen des Windes: vor allem aber glühe seine Seele zu Gott, welcher allein die Gnade herab sendet und die Befähigung schafft, sie zu empfangen!“ —

 Diess ist in kurzen und unvollkommenen Zügen der Inhalt eines Buches, das die Runde durch das ganze Slawenthum machen wird, das Jeder lesen muss, der irgendwie Anspruch[WS 1] auf Kenntniss des slawischen Nationalgeistes und seiner Entwickelung machen will. Wir wiederholen, es lag nicht in der Absicht des Verfassers, eine Geschichte der slawischen Literatur vorzutragen; dazu fehlt es ihm bisher nach seinem eigenen Geständniss an der allumfassenden Erudition, welche das Kleinste wie das Grösste kennen muss, um ein Urtheil darüber zu haben. Das Buch ist vielmehr eine Geschichte der Entwickelung des slawischen Nationalgeistes nach jeder Seite hin, in staatlicher, wissenschaftlicher, artistischer, kurz in jeder Rücksicht, wo sich der Geist einer grossen Nation offenbart. Und zu einer so grossartigen Auffassung des Slawenthums ist der Genius Mickiewicz’s besonders berufen; von ihm verlangen wir nicht das Sichverlieren im Detail, dazu reichen unsere eigenen Kräfte hin; er muss das All umfassen und in seiner Seele die tiefsten Beziehungen unserer Nationalität zu dem Geiste der Menschheit, zu dem Geiste der Zeit und Ewigkeit abspiegelnd die Wege uns zeigen, die wir zurückgelegt und die Bahnen uns vorzeichnen, die wir wandeln sollen. Und darum ist sein Buch von unermesslichem Werthe für die Gegenwart und ein entscheidendes Gewicht für die Zukunft in der Wagschale des Slawenthums.


Slowanský Národopis. Slawische Ethnographie von P. J. Schafarik. Mit einer Karte. Prag 1842. XII u. 187 Seiten.

 Ein Buch, dessen erste Auflage bereits vor ihrem Erscheinen vergriffen war, und sogleich einen zweiten Abdruck nothwendig machte. Der Name Schafariks und die bekannte Thatsache, dass er sich seit mehr als 10 Jahren mit diesem Gegenstande beschäftigt, dass er mit den verschiedensten Männern in allen slawischen Ländern in die genaueste Correspondenz getreten, mit einem Worte, dass er Alles aufgeboten hatte, was in den Kräften eines Einzelnen bei Unterstützung einer zahlreichen Menge von Freunden stand: war die Ursache einer so einzig und allein dastehenden Erscheinung auf dem Felde der böhmischen Literatur. Bereits vor einigen Jahren hatte der hochgeehrte Verfasser seinen Entschluss geäussert, er wolle für jede der zwei historischen Epochen, die er in seinen „slawischen Alterthümern“ aufstellt, eine eigene Karte über die Sitze und die Ausbreitung der einzelnen slawischen Völkerschaften veröffentlichen. In der Folge änderte er seinen Entschluss dahin, dass er eine umfassende Karte über die gegenwärtigen geographischen Verhältnisse der Slawen entwarf, aus welcher man auch die früheren Sitze der einzelnen Stämme herauszusuchen im Stande sei. Zur Grundlage der seinigen legte er den Abschnitt der grossen Reymannischen Karte von Europa, welche freilich unter seiner Hand in vieler Hinsicht eine andere Gestalt bekam. Auf der vom Verfasser so ausgearbeiteten Karte bilden nun die Grenzen der einzelnen slawischen und der anwohnenden fremden Völkerschaften die Grundlage; die Vertheilung derselben unter die verschiedenen Staaten ist nur leichthin durch rothe Grenzstriche angedeutet. Bei der Bestimmung der Grenzen der einzelnen Volksstämme wurde die gegenwärtige Sprache derselben zum Kennzeichen ihrer Stammeseinheit angenommen; die Ausbreitung eines Stammes aber in jene Grenzen eingeschlossen, bis wohin der oder jener slawische Dialekt von dem Volke als herrschend gesprochen wird. Auf die Städtebewohner konnte nach der allerdings gültigen Ansicht des Verfassers hierbei nicht Rücksicht genommen werden, da in manchen slawischen Länderstrichen die Städte zum grossen Theil von Nichtslawen bewohnt sind. Um den Gebrauch der Karte noch zu erhöhen, wurde derselben eine ethnographische Uebersicht unter dem obenstehenden Titel beigegeben. In dieser nun ist der ganze slawische Volksstamm nach seinen Hauptvölkerschaften abgetheilt und von jeder derselben eine noch genauere Umgrenzung des

Anmerkungen (Wikisource)

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J. P. Jordan: Jahrbücher für slawische Literatur, Kunst und Wissenschaft. Erster Jahrgang. Robert Binder, Leipzig 1843, Seite 71. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Jahrb%C3%BCcher_f%C3%BCr_slawische_Literatur,_Kunst_und_Wissenschaft_1_(1843).pdf/82&oldid=- (Version vom 25.11.2022)