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J. P. Jordan: Jahrbücher für slawische Literatur, Kunst und Wissenschaft. Erster Jahrgang

russische Sprache zum ersten Male in der Gestalt der leichten neueuropäischen Diction. Das russische Volk verhüllt seine Gedanken mit einer erstaunenswerthen Leichtigkeit unter bestimmte Sprachformeln und macht in seiner Rede die gewandtesten Wendungen. Die Deutschen, welche ihre Sprache nach dem Muster der künstlichen Lateinischen bildeten, können bis auf diesen Augenblick von ihren langen, gedehnten Perioden nicht lassen und vermögen trotz aller Bemühung, die leichten französischen Formen in ihrer Rede einzuführen, diese Riesenarbeit nicht durchzusetzen; selbst Göthe war nicht im Stande, die harte Form überall zu besiegen. Wir dagegen haben uns so leicht und so natürlich von der figurirten lateinischen Periode losgesagt, welche — wir müssen es gestehen — einst zur Ausbildung unserer Sprache nothwendig war und ihr zu ihrer Zeit grossen Vortheil brachte. Nach unserer Ansicht nämlich musste unsere Sprache nothwendigerweise die Periode Lomonosow’s durchwandeln, denn sie hätte ohne dieselbe sich nie in dieser wohlgeformten, harmonischen und freien Gestalt zeigen können, die ihr Karamzin gab. Demzufolge äussert die französische Prosa mehr als jede andere ihren Einfluss auf die russische. Nach den Franzosen und Engländern sind wir die ersten Romanschreiber in Europa und sind in dieser Hinsicht den Deutschen weit vorangeeilt: der beste Beweis dafür, was wir oben behaupteten.

 Karamzin zeigte uns in den letzten Zeiten seiner Herrschaft noch ein anderes Element, das wir aber nicht mit solcher Wärme annahmen, wie wir es hätten thun sollen. Bekanntlich nahm Karamzin im russischen Styl zwei Grundsätze auf, wie wir sie oben auseinandersetzten. Aber auf diesem Wege stiess er auf einen kräftigen Gegner in Schischkow, der, wie der alte Cato vor das neue Geschlecht, das dem westlichen Einflusse erlag, sich stellte und den in sich hervorgerufenen Geist des alten nationalen Slawenthums ihm entgegenstemmte. Dadurch rief er uns eben zur gelegenen Zeit unsere alte reiche Schatzkammer ins Gedächtniss zurück, auf welche zuerst Lomonosow hingedeutet hatte, und erzeigte durch seinen heftigen Widerstand, trotz dem scherzhaften Spott des jüngeren Geschlechtes, der guten Sache einen grossen Dienst. Karamzin zog Nutzen aus seinen Warnungen; denn als er sich daran machte, das Leben unseres alten Vaterlandes zu schildern, als er zu diesem Zwecke alle Denkmäler der slawisch-russischen Literatur durchging: da entdeckte er neue, noch unberührte Schätze und fing an, mit dem ihm eigenthümlichen Geschmacke die russische Sprache, wie er sie selbst herausgebildet, mit denselben auszuschmücken. Von Band zu Band verwandelt sich allmählig die Sprache in der Geschichte des russischen Reiches und allmählig zeigt sich der ganze Reichthum derselben. So geschah mit dem Styl Karamzin’s dasselbe, was mit der ganzen neuen Umgestaltung Russlands allmählig geschehen muss. Sein Styl entfernte sich immer mehr von der europäischen Grundlage und ward immer eigenthümlicher und nationaler in dem Maasse, wie sich Karamzin in die altrussische Literatur hineinlas: ein Gleiches muss mit unserer neuen Bildung geschehen, nach Massgabe dessen, wie wir, durchzuckt von dem europäischen Princip, tiefer eindringen werden in die Kenntniss unserer selbst. Bekannt ist es, dass Karamzin gegen das Ende seines Lebens seine frühere Weise, über das alte Russland zu denken, in vielen Punkten durchaus geändert hat. So ist dieser Schriftsteller nicht nur durch seinen Styl, sondern auch durch den Charakter seiner inneren Entwickelung bis auf diesen Augenblick der Repräsentant unserer gegenwärtigen Cultur; daher ist eine Darstellung seines Lebens eine unbedingte Nothwendigkeit, denn mit ihm beginnt ein grosser Umschwung in der Richtung, welche Russlands Bildung eingeschlagen. — Dieses Zurückwenden zu den altslawischen Quellen bei Karamzin wurde in unserer Literatur bisher weder verstanden, noch gehörig gewürdigt. Von allen Schriftstellern betrat der einzige Puschkin denselben mühsamen Weg nach ihm; mit gleichem Fleisse studirte er nach dem Beispiele seines gefeierten Lehrers die Denkmäler des alten Russenthums. Von den lebenden Schriftstellern hat der einzige Łażecznikow[1] in seinem „Bisurman“[2] sich mit Glück desselben bedient und ein schönes Beispiel gezeigt, auf welche Weise die Darstellung des alten Lebens der Russen ein Kunstwerk sein kann mit Hülfe unserer

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J. P. Jordan: Jahrbücher für slawische Literatur, Kunst und Wissenschaft. Erster Jahrgang. Robert Binder, Leipzig 1843, Seite 54. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Jahrb%C3%BCcher_f%C3%BCr_slawische_Literatur,_Kunst_und_Wissenschaft_1_(1843).pdf/65&oldid=- (Version vom 4.10.2022)
  1. Łażecznikow, Iwan I. ist die polnische Version des Namens des 1792 in Kolomna (Gebiet Moskau) geborenen und 1869 in Moskau gestorbenen russischen Schriftstellers Иван Иванович Лажечников - Iwan Iwanowitsch Laschetschnikow bzw. in wissenschaftlicher Transkription des Russischen im Deutschen - Ivan Ivanovič Lažečnikov, der vor allem mit historischen Romanen hervortrat, von denen Ledjanoj Dom («Ледяной дом» (1835), Deutsche Übersetzung von Alfred Klöckner unter dem Titel Der Eispalast, Verlag der Nation Berlin 1969) und Basurman («Басурман» (1838), Deutsche Übersetzung von Alfred Klöckner unter dem Titel Der Fremde, Verlag der Nation Berlin 1976) die bekanntesten sind. Sein Drama Opričnik (Der Opritschnik) diente als Grundlage der gleichnamigen Oper von Pjotr Tschaikowski.
  2. gemeint ist Basurman («Басурман» (1838), Deutsche Übersetzung von Alfred Klöckner unter dem Titel Der Fremde, Verlag der Nation Berlin 1976)