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J. P. Jordan: Jahrbücher für slawische Literatur, Kunst und Wissenschaft. Erster Jahrgang

und Haltung desselben war ganz neu und Dmitriew erhielt nur deshalb nicht den Namen eines Romantikers, weil damals das Wort noch nicht existirte. Durch ihn näherte sich also die russische Dichtung der Einfachheit und Natürlichkeit, dem Leben und der Wirklichkeit; denn in der zerscheuchenden Sentimentalität ist immer noch mehr Leben und Natur, als in dem Pendantismus der Schule. Die Reden, welche der Dichter den beiden Schamanen in den Mund legt, strotzen von Deklamatorik und suchen durch hohe Diktion zu glänzen; aber der Gedanke in den Klagen der Schamanen am Irtysch gegen die Bestrebungen Jermak’s ist nicht rhetorisch mehr, sondern wahrhaft poetisch. Und in solchen Dingen zeigt sich das Streben Dmitriew’s nach Neuem, der Wunsch, der russischen Literatur neue Bahnen vorzuzeichnen.

 In dieser Zeit bemerkte man in der russischen Literatur auch das Erwachen des kritischen Geistes. Einige alte Autoritäten begannen zu schwanken. Im Jahre 1802 schrieb Karamzin einen Artikel: Pantheon der russischen Autoren. Er sagte darin kein Wort von den lebenden Schriftstellern, von Derżawin und Cheraskow; denn das hielt man damals für ungehörig; auch sagte er nichts von Petrow, obgleich er schon drei Jahre todt war; man kann errathen, dass Karamzin die vielen Verehrer dieses Dichters nicht gegen sich aufbringen und weil er zugleich ihn doch auch nicht gegen seine Meinung loben wollte. Diese literarische Nachgiebigkeit findet sich wirklich im Charakter Karamzin’s. Im Pantheon ward zuerst ein gerechtes Urtheil über Tredjakowski ausgesprochen, indem es da heisst: „Die Gelehrsamkeit bildet, aber sie erzeugt keinen Autor.“ Ueber Sumarokow spricht Karamzin zurückhaltender und mit weniger Bestimmtheit; aber auch dieses war ein gefährlicher Feind für den Ruhm desselben. Seinen Tragödien wirft er vor, dass er sich mehr bemüht habe, „die Gefühle zu beschreiben, als die Charaktere in ihrer ästhetischen und moralischen Wahrheit darzustellen.“ Es scheint fast, als habe Karamzin besorgt, man möchte ihm nicht Glauben schenken, wenn er die Wahrheit ganz und ungeschminkt heraussage.

 Aber so sehr auch Dmitriew und Karamzin gegen den Geist der alten Schule eifern, so entschlüpft doch auch ihnen nicht selten ein Gedanke, eine Wendung aus derselben, und das „Besingen“ und die „Leyer“ findet man bei beiden nicht selten. So brachten denn die Beiden in Hinsicht der Richtung und der Form einen neuen Geist in die Literatur; aber sie vermochten nicht, dieselbe gänzlich von dem rhetorischen Einflusse zu befreien. Phöbus, die Lyra und ähnliche Dinge sanken zur Nebensache herab, aber sie verschwanden nicht; die alte Gewohnheit hing an ihnen und bewahrte sie sogar bis in die Zeiten Puschkin’s. Wenn nun die russische Poesie und die ganze Belletristik überhaupt den rhetorischen Charakter beibehielt, so nahm sie doch in Folge der Richtung, welche ihr Karamzin und Dmitriew gaben, ein neues Element in sich auf: die Sentimentalität. Diese war nun freilich keine Erfindung weder Karamzin’s noch Dmitriew’s, sondern sie herrschte in der Literatur und in den Sitten von ganz Europa in dem siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderte, welches sich in ihrem Charakter vollständig ausgebildet und innerlich entwickelt hatte. Russland war dieselbe bisher fremd geblieben; erst als dasselbe in den Jahren seiner Grösse, 1812—1814, in die innigste Berührung mit dem Westen kam, erfasste sie dieselbe mit frischem Gefühl; erst von da beginnt der Kampf des Romantismus mit dem Klassicismus; bis zur Erscheinung Puschkin’s beugten sich die russischen Dichter und Schriftsteller vor den alten Autoritäten. Merzljakow kritisirte nach der Weise eines Laharpe und übersetzte die Idyllen der Madame de Soulière; Ozerow ahmte Racine nach; in Krylow erblickte man einen Nachfolger Lafontaine’s, Batjuschkow verehrte einen gewissen Parnie (?), den er an Talent weit übertraf; Żukowski schritt zur Hälfte seinen eigenen Weg, zur Hälfte erlag er dem Einflusse der Schule Karamzin’s. Und so wurde die russische Literatur mit der europäischen Sentimentalität beinahe in demselben Augenblicke erst bekannt, als

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J. P. Jordan: Jahrbücher für slawische Literatur, Kunst und Wissenschaft. Erster Jahrgang. Robert Binder, Leipzig 1843, Seite 348. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Jahrb%C3%BCcher_f%C3%BCr_slawische_Literatur,_Kunst_und_Wissenschaft_1_(1843).pdf/359&oldid=- (Version vom 11.4.2020)