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J. P. Jordan: Jahrbücher für slawische Literatur, Kunst und Wissenschaft. Erster Jahrgang

man sieht, sie sind aus dem Leben gegriffen. Die russische Literatur ist nämlich bis auf diesen Augenblick immer noch eine Literatur der höheren Stände. Das Leben der privilegirten Klassen dient fast ausschliesslich zum Vorwurf aller Darstellungen und Schilderungen der russischen Schriftsteller, und dennoch ist die sogenannte „grosse Welt“ nur wenigen unter denselben ganz und genau bekannt. Graf Sollohub ist einer von diesen Wenigen, und darum seine Bilder so wahr, seine Bemerkungen so trefflich. Realität und Einfachheit sind die vorzüglichsten Eigenschaften der Erzählungen des Grafen Sollohub, und darin ist er nach Gogol der erste russische Schriftsteller. Aber ihm fehlt es an Subjectivität; man sieht den Dichter selbst nicht, man fühlt nicht die warme Begeisterung für die dargestellten Charaktere, welche in der Darstellung durchschimmern muss, wenn sie anders den Leser unserer Tage entzücken soll. — Mehr Subjectivität, aber auch weniger Wahrheit, weniger Reife und Sicherheit des Talentes findet man in den Erzählungen Panajew’s. Eine auffallende Unsicherheit, ein Schwanken in der ideellen Auffassung seines Gegenstandes wie in der Ausführung desselben, giebt diesem jungen Dichter eine weniger feste Haltung in der Literatur; allein die continuirliche Vervollkommnung, die sich an seinen Produkten zeigt, der successive, wenn auch langsame Fortschritt, den man bei jeder Bewegung zu begleiten im Stande ist, sind uns die beste Bürgschaft, dass man in der Zukunft Tüchtiges von dem Manne erwarten kann. Und in dieser Rücksicht ist es nur zu loben, dass Panajew weniger fruchtbar ist, als viele weniger begabte Schriftsteller, ja selbst als man es von seinem entschiedenen Talente erwarten sollte. Seine neueste Erzählung: „Akteon“, ist gewiss die beste von allen, die er bisher geschrieben und verdient eine allgemeine Anerkennung. — Einer aufflackernden Flamme gleich, die noch einmal blitzt, ehe sie verlischt, war die Erscheinung der zu früh verstorbenen Madame Hahn, bekannt unter dem Pseudonym Zeneide R-wa.. Ihr „Любонька (Liebchen?)“ wurde mit Entzücken aufgenommen; ihre gesammelten Schriften werden zum Drucke vorbereitet. — Kukolnik hat ausser seinen Romanen auch noch mehrere Erzählungen geschrieben, und diese sind allerdings besser, weit besser als jene. Sobald dieser an sich gewiss talentvolle, aber durch zu viel Schreiben sich selbst vernichtende Schriftsteller in die Vergangenheit zurückkehrt, werden seine Bilder allemal wahr, lebendig und interessant. Die Zeit Peters des Grossen, diese so hochwichtige Zeit für Russland, hat vielleicht Niemand besser aufgefasst, wenigstens Niemand glücklicher geschildert und nachgebildet, als Kukolnik. Neben diesen Geistesprodukten nimmt Weltman’s mit den lebendigsten Farben gezeichnete Erzählung: „die Carriere“, einen sehr ehrenwerthen Platz ein. Einige allzuhelle Farben abgerechnet, lässt diese höchst interessante Novelle wenig zu wünschen übrig; Weltman hat viel Talent, aber er muss seine Phantasie noch zügeln und regeln lernen. Dass er sich auf rein heimischen Boden bewegt, zeigt, dass Weltman den Geist der gegenwärtigen Literaturrichtung erkannt hat. Noch deutlicher prägt sich derselbe in den humoristischen Skizzen aus, aus welchen das Buch „Наши, die Unsern, Wir“ zusammengesetzt ist. Dal’s, des Luganer Kosaken „Doppelgänger (Dwojnik?)“ verdient ebenfalls genauer bezeichnet zu werden. — Mehr solcher Erscheinungen findet man in den Almanachen und ähnlichen Sammlungen von poetischen und prosaischen Geistesprodukten. Unter ihnen zeichnet sich „die Morgenröthe“ von Wladislawlew vortheilhaft aus. Ueberhaupt scheint sich gegenwärtig die literarische Industrie (sehr oft blosse Spekulation) zu solchen Unternehmungen vorzüglich wenden zu wollen. Die glänzende Aufnahme, welche die „Naschi“ gefunden, hat sogleich ein ähnliches Unternehmen hervorgerufen, die „Bilder russischer Sitten“, eine höchst mittelmässige Erscheinung, fast ohne Werth für den Gang der Literatur. Geschichten von Napoleon, Suwarow, Peter den Grossen und ändern gehören ebenfalls in diese Kategorie. — Unter den Uebersetzungen aus fremden Sprachen stehen die der Werke Shakespeare’s von Ketczer oben an. Das Unternehmen schreitet zwar langsam, aber in aller Würde vorwärts. Eine von

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J. P. Jordan: Jahrbücher für slawische Literatur, Kunst und Wissenschaft. Erster Jahrgang. Robert Binder, Leipzig 1843, Seite 230. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Jahrb%C3%BCcher_f%C3%BCr_slawische_Literatur,_Kunst_und_Wissenschaft_1_(1843).pdf/241&oldid=- (Version vom 5.1.2020)