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J. P. Jordan: Jahrbücher für slawische Literatur, Kunst und Wissenschaft. Erster Jahrgang

Ist die eigne Mutter erstes Vögelein,
Ist die theure Schwester zweites Vögelein,
Ist die junge Gattin drittes Vögelein.
Wenn die Mutter weinet, fliesset es wie ein Strom;
Wenn die Schwester weinet, fliesst es wie ein Bach;
Wenn die Gattin weinet, träuft es wie der Thau,
Sonne roth wird scheinen und der Thau verfliegt!

Ein gleicher Gedanke spricht sich in dem Liede: „Der Mordwald“ S. 48 aus. Welche feine Beobachtung zeigt das Lied: „Stadthalterspruch“, in welchem ein Mädchen vom Stadthalter von Astrachan Gerechtigkeit fordert, nach dem Gesetze, gegen einen Burschen, der sie verführte und dann verlachte. Der Stadthalter erwiedert auf ihre Klage: „Bist Du selber nicht, junges Mägdelein, — Bist Du selbst nicht schuldig? — Nicht vor seiner Zeit, vor der Stunde nie — Scheint das liebe Sönnchen: — Ohne Lockung stellt auch ein wackerer Bursch — Nimmer nach dem Mädchen.“ — Selbst der Geist der Freiheit, der Widerstand gegen Bedrückung von Oben spricht sich im Volksliede aus; so z. B. im folgenden:

Burlackenrache[1].

Tiefer ab dem Strome, denn die Stadt von Sarotow,
Höher auch am Ufer, als die Stadt von Zarizin:
Kam Kamischnika, die Mutter, her in engem Fluss,
Führte mit sich beiderseitig Uferränder steil,
Steile Ufer, holde Ufer, Wiesenmatten grün,
Nieder in die Mutter Wolga mündet sich die Fluth.
Auf Kamischnika, der Mutter auf dem Strome her
Schwimmen platter Schiffe, welche des Estaulen[2] Gut
Und Burlackenruder sitzen in den Schiffen viel:
Alle Tapfere der Wolga, und Burlacken all’;
Alle tapfer, wohlgekleidet, wie es sich gebührt,
Trugen kleine Zobelmützen, reich verbrämt mit Sammt,
Festliche Kaftane, schöne, aus Damast genäht,
Kittel auch von feinem Linnen, voll von Schnurbesatz,
Seidenhemden, die mit Tressen rings herum benäht;
Alle Burschen hatten Stiefeln an von Safian.
Wie sie ruderten, so sangen sie aus voller Brust.
Bei dem Werder in der Wolga hielten stille sie:
Dem Stadlhalter zu begegnen, harrten sie allda;
Den Stadthalter sie erharrten, den von Astrachan.
Und die tapfern Burlacken hoben also an:
Dorten auf den Wassern tauchet Weisses ferne auf:
Des Stadthalters Flagge ist es, die uns dort erscheint,
Die wir lang’ erwarten, bringet dort ihr bös Geschick.
Der Stadthalter schöpfte Argwohn, der von Astrachan:
O Ihr tapfern Burlacken, freie Leute Ihr!
Nehmet hin der goldenen Schätze so viel Euch beliebt,
Nehmt die buntigen Gewande, mein Stadthallerkleid.
Nehmt die Wunderdinge, alle über Meer gebracht,
Nehmt diesen hellen Reichthum hin von Astrachan.
Und die tapfern, freien Leute ihm antworten drauf:
Deine goldene Schätze gelten bei uns nicht viel
Nicht viel gelten die Gewande, dein Stadthalterkleid,


  1. Die Matrosen der Wolga.
  2. Unterhäuptling der Kosaken. Ataman, der Oberhäuptling.
Empfohlene Zitierweise:
J. P. Jordan: Jahrbücher für slawische Literatur, Kunst und Wissenschaft. Erster Jahrgang. Robert Binder, Leipzig 1843, Seite 206. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Jahrb%C3%BCcher_f%C3%BCr_slawische_Literatur,_Kunst_und_Wissenschaft_1_(1843).pdf/217&oldid=- (Version vom 9.12.2019)