die jeden Sonntag vor dem Gottesdienste allein in der Kirche ihr Gebet verrichtete. Es dauerte darum auch gar nicht lange, so ging sie zur Kirchthüre herein und trat vor den Altar, kniete nieder und betete:
„Herr Gott, wann komme ich zu dir?“
Antwortete der Küster, als wäre er der liebe Gott:
„Nun und nimmermehr!“
Betete die Edelfrau weiter:
„Warum denn nicht, du Herre Gott?“
Sprach die Stimme hinter dem Altar:
„Du zählst der Magd das Fleisch in’n Pott.“
Seufzte die Edelfrau:
„Ach, Herr, es soll nicht mehr geschehn!“
Sagte der liebe Gott:
„Na, na, wir werden sehn.“
Damit war das Gebet der Edelfrau zu Ende, und sie hielt Wort. Am andern Morgen gab sie der Küsterstochter den Schlüssel zur Speisekammer und hieß sie so viel Fleisch herausnehmen, als sie nur wolle; und das Mädchen blieb auf dem Schlosse im Dienst, bis es alt und grau wurde.
Ob aber die Edelfrau dadurch zu Gnaden gekommen ist? – Ich will’s doch hoffen!
Ulrich Jahn: Schwänke und Schnurren aus Bauern Mund. Mayer & Müller, Berlin 1890, Seite 75. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Jahn_Schwaenke_und_Schnurren_aus_Bauernmund.djvu/75&oldid=- (Version vom 1.8.2018)