„was ist doch die Sündenschuld unserer alten Mutter groß! Konnte sie nicht langsam essen? Nein, sie mußte sogleich das große Stück Wurst und die ganze Semmel auf einmal in den Mund bringen. Das haben wir davon, daß wir auf die braven Küstersleute so schändlichen Verdacht hatten!“
„Du hast recht, Väterchen,“ antwortete die Frau Pastorin, „aber wie schaffen wir nur die Leiche beiseite! Denn kommt es heraus, daß sie in der Kiste an Wurst und Semmel gestickt ist, so heißt es im ganzen Dorfe, sie sei eine Hexe gewesen, und bei uns ginge es nicht mit rechten Dingen zu.“
„Wir wollen den Küster bitten, daß er sie auf dem Kirchhof unter dem Gebüsch vergräbt, wo es noch wenig gefroren hat,“ meinte der Pastor, „und den Bauern sagen wir, Großmütterchen sei zu deiner Schwester gereist. Und dort mag sie bleiben, bis Gras über die Geschichte gewachsen ist.“
„So gefällt ’s mir auch!“ sagte die Frau, und der Pastor ging zum Küster, drückte ihm zehn Thaler in die Hand und bat ihn, er möge doch in der Nacht die alte Großmutter beerdigen, die plötzlich gestorben sei. Der Küster war damit einverstanden, that die Leiche in einen großen Sack und legte sie in der Schulstube nieder.
Als es dunkel geworden war, nahm er den Sack auf den Buckel; aber er ging nicht auf den Kirchhof damit, sondern in des Pastors Schweinestall. Dort schnitt er den Schweinen die Hälse durch, und auf das letzte setzte er die alte Großmutter und gab ihr das
Ulrich Jahn: Schwänke und Schnurren aus Bauern Mund. Mayer & Müller, Berlin 1890, Seite 116. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Jahn_Schwaenke_und_Schnurren_aus_Bauernmund.djvu/116&oldid=- (Version vom 1.8.2018)