Seite:JüchenFrauenlebenImWeltkriege.pdf/95

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

Flämmchen emporzüngeln, das Flämmchen mußte er niedertreten. Nachdenklich entschlossen ging er durch die breiten Gänge zur Selekta hin. Aus allen Klassenzimmern das übliche körperlose Brausen, „na, in der Selekta“, dachte er, „wird sicher wieder ein Radau sein, wie im Raubtierhaus!“ Doch, o Wunder, gerade aus dieser gefürchteten Klasse floß eine feierliche Stille, und auf ihr glitt majestätisch wie ein Flaggschiff die Stimme der Lehrerin hin mit begeistertem Schwung. „In der Geschichte ist die Jungfrau eine gute Französin“, erläuterte sie, „aber in Schillers Drama ist sie mehr: Die Verkörperung des friedlich schaffenden Volksgeistes. So sagt sie von sich: ,Schon vor des Eisens blanker Schneide schaudert mir, doch wenn es not tut, alsbald ist die Kraft mir da.’ Damals riß es die Hirtin von ihrer Herde, als England die Rechte des französischen Thronerben mit Füßen zu treten suchte, sowie heute der deutsche Volksgeist vom friedlichen Schaffen schied und zu den Waffen eilte, weil England sein heiliges Recht auf freie Entfaltung niedertreten will. Endlich wird doch einmal die Vergeltung kommen für dieses Land, das die Rechte anderer Völker mißachtet und mit Tücke und List zu vernichten strebt.“ Ein tiefer Seufzer der Lehrerin, dann zischt wie eine Rakete aus einer Ecke der Klasse der helle Ruf: „Gott strafe England!“ und wie auf Befehl folgt dem Ruf ein lautes „Hurra!“ der von Begeisterung hingerissenen Klasse.

Der Direktor mochte nicht länger den Lauscher spielen, er trat ein. Was er sah, war freilich keine Musterklasse im Sinne eines Schulmeisters, aber was konnte er gegen ein solches Räuschlein aus dem Born der Dichtung sagen, von dem die Augen der Mädchen blitzten und die Wangen purpurn leuchteten? In einiger Verlegenheit wandte er sich der Lehrerin zu, und diese, als ob sie damit die Stimmung ihrer Klasse entschuldigen wollte, sprach das erste Wort: „Herr Direktor, ich habe heute morgen die Nachricht empfangen, daß mein Bruder bei Ypern gefallen ist.“ Über das Gesicht des Direktors zuckte es, als ob ihn selbst ein

Empfohlene Zitierweise:
Aurel von Jüchen: Frauenleben im Weltkriege. Xenien-Verlag, Leipzig 1915, Seite 93. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:J%C3%BCchenFrauenlebenImWeltkriege.pdf/95&oldid=- (Version vom 1.8.2018)