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erschien wie von einer Zentnerlast niedergedrückt, ihre sonst so milden, freundlichen Augen waren stark gerötet und schimmerten so traurig, daß selbst die wildesten Schülerinnen etwas wie Schrecken empfanden. So wurde denn in verhältnismäßig kurzer Zeit festgestellt, daß man in der vorigen Stunde Schillers „Jungfrau von Orleans“ bis an den sechsten Auftritt des zweiten Aufzuges durchgenommen hatte, bis zu jenem Auftritt, wo aus der Flucht des englischen Heeres sich Montgomery löst und auf dem Schlachtfeld mit der Jungfrau zusammentrifft. Die Rollen Montgomerys und der Jungfrau wurden vergeben, und ersterer begann, aus dem Munde einer hübschen Blondine seiner Verzweiflung Ausdruck zu geben, während die Lehrerin auf dem Katheder Platz nahm. Ruhig schien sie dem Vortrag zu folgen, in Wirklichkeit tanzten die Buchstaben vor ihren Augen, und ihre Seele schwebte weit fort von dem Kampfe Montgomerys mit Johanna zu einem anderen Kampfe. Vor sich sah sie einen deutschen Schützengraben. Aus vielen Bildern hatte sie eine gute Vorstellung von diesen unsichtbaren Maulwurfsgängen des Todes, die als sein Lachen das Knattern der Gewehre, als sein Geheul das Sausen der Schrapnells umtost. Sie sah unsere Feldgrauen im Anschlag liegen. Es dunkelt. Da schleicht etwas heran. Unheimlich fremde Gestalten; es sind Ghurkas, farbige Engländer. Wie Panter kriechen sie von dem englischen Schützengraben herüber, ihre langen Messer zwischen den Zähnen. Fräulein Karoline hat das Gefühl, als risse es sie fort von hier, als müsse sie warnen, doch schon ist es zu spät. Wie Hyänen springen die Inder in den deutschen Schützengraben und metzeln die jäh überrumpelten feldgrauen Krieger nieder. Ein Grauen schüttelt Fräulein Karoline, das Grauen vor solchem Tod. Dann durchzuckt sie glühender Schmerz. Sie sieht vor sich ein rot überhauchtes, frisches Gesicht, dessen Augen in sonnigem Leuchten flammen, das Gesicht eines kindjungen Jünglings, und unwillkürlich muß sie des Liedes denken, das dieser in der Abschiedsstunde ihr lachend sang:

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Aurel von Jüchen: Frauenleben im Weltkriege. Xenien-Verlag, Leipzig 1915, Seite 89. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:J%C3%BCchenFrauenlebenImWeltkriege.pdf/91&oldid=- (Version vom 1.8.2018)