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ja kaum. Dein Bruder Heinrich hat mir ja schon die drollige Geschichte erzählt, daß dein Mann als vermißt in der Verlustliste stand, und du den Tag drauf von ihm eine Karte erhieltest, wonach er leicht verwundet sei, daß du also gar nicht wußtest, ob du Witwe warst oder nicht, bis dann von Breslau eine Depesche eintraf, daß er vom Lazarett aus in Urlaub kommen werde, und jetzt sitzt er da.“ „Dann weißt du ja alles“, sagte Frau Kerner, von Annchens Redeweise unangenehm berührt, aber mit feuchtem Glanz im Auge. „Wie sind Sie denn nur in die Verlustliste gekommen, Sie Ärmster?“ frug Annchen jetzt den Offizier am Fenster, doch der antwortete überhaupt nicht. „Er hört dich nicht“, sagte Frau Kerner, „er ist auch so ungern an den Krieg erinnert; es hängt mit einem Waldgefecht bei Lodz zusammen. Er ist dort durch einen Kolbenstoß gegen den Unterleib besinnungslos geworden. Der Stoß hat Gott sei Dank keine weiteren Folgen gehabt, aber durch die paar Stunden Besinnungslosigkeit hat er die Fühlung mit seiner Truppe verloren, ist einige Tage in der fürchterlichen Kälte umhergeirrt, nur mit knapper Not und mit seiner Kopfwunde der russischen Gefangenschaft entgangen, und hat wie durch ein Wunder schließlich den Weg nach Lodz zurückgefunden.“ „Du Glückliche!“ rief Anna, doch Frau Kerner wehrte ab: „Dieses Mal ist der Kelch an mir vorübergegangen, den so viele trinken müssen, aber ob ich nicht dennoch bald an die Reihe komme? Ich bin auf das Schlimmste gefaßt, aber Günther und ich haben beschlossen, uns die kurzen Glückstage nicht durch Kriegsgedanken zu verbittern.“ Fräulein Anna hatte noch vieles zu fragen, doch endlich kam man auf andere Dinge zu sprechen.

Herr Kerner sagte kein Wort und wandte seinen Blick nicht von der Straße. Dort wurde die Doppelreihe der Gasflammen angezündet, die über die Länge der Straße schwebte. Herrn Kerners Augen folgten dem Laternenmann, bis die letzte Flamme des heiteren Lichtreigens brannte. Das geschieht allabendlich zur rechten Zeit,

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Aurel von Jüchen: Frauenleben im Weltkriege. Xenien-Verlag, Leipzig 1915, Seite 108. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:J%C3%BCchenFrauenlebenImWeltkriege.pdf/110&oldid=- (Version vom 1.8.2018)