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Die Klingel der Etage schrillte, und eine helle Frauenstimme frug draußen das Mädchen: „Ist die Herrschaft zu Hause?“ „Das ist Annchen“, rief Frau Kerner, indem sie aufstand. „O weh!“ knurrte er. „Du hast sie doch immer so gern gehabt“, sagte sie verwundert, indem eine leichte Röte über ihr blasses Gesicht huschte. „Aber heute nicht, schaff' sie bald wieder fort!“ bat er. Die Tür tat sich auf, und eilenden Schrittes flog Fräulein Anna, eine schlanke, blendende Gestalt, im Samtmantel, mit einem prächtigen Federhut auf welligem Blondhaar, der Hausfrau um den Hals. „Liebste Hedwig, was hast du ausstehen müssen!“ Dann begrüßte sie herzlich Herrn Kerner: „Günther! Herr Oberleutnant!“ rief sie, indem ob ihrer irrigen Anrede mit dem Vornamen ein schelmisches Lächeln über ihr rosiges Gesicht ging. „Willkommen in der Heimat! Aber daß Sie uns solche Angst machen, ist undankbar. Sie glauben nicht, wie unsere Gedanken Sie stets umschwirrt haben. Merkten Sie nichts davon?“ „Nein“, erwiderte er mit abweisendem Lächeln, „mich umschwirrten immer diese Dinger hier“, — er zog aus seiner Tasche ein langes, ovales Geschoß mit abgeplatteter Spitze, — „das ist eine ganz gemeine Russenkugel, ich verehre sie Ihnen zum Dank für Ihre schwirrenden Gedanken.“ Die junge Dame konnte nicht genug Worte finden, um ihr Entsetzen vor der Kugel und ihren Dank für das Kriegsandenken auszusprechen, dann frug sie nach der Verwundung, doch Herr Kerner gab nur abgehackte, kühle Antworten; endlich nahm sie mit der Frage: „Ich störe doch nicht?“ an dem in der Mitte des Zimmers stehenden Tisch in einem von Frau Kerner ihr hingeschobenen Sessel Platz. „Alle Bekannten sind voll von eurem Ereignisse, wie war dir nur zumute? Erzähl doch mal!“ sagte sie zu Frau Hedwig. Diese erwiderte ernst: „Glaubst du an eine Auferstehung nach dem Tode? So ähnlich, wie mir, mag dem zumute sein, der im Grabe liegt und plötzlich aufgeweckt wird, um in die Herrlichkeit des Himmels einzugehen.“ „Na, Hedwig“, rief Anna, „ihr sprecht aber beide heute so komisch, das versteht man

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Aurel von Jüchen: Frauenleben im Weltkriege. Xenien-Verlag, Leipzig 1915, Seite 107. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:J%C3%BCchenFrauenlebenImWeltkriege.pdf/109&oldid=- (Version vom 1.8.2018)