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patriarchalischen Dunst, der so gemütlich über ihrem Hauswesen lagerte. — Der Vater erzählte ruhig weiter von der Weisheit des Doktor Michelin, Erich hatte sich ganz in seine Mahlzeit vertieft, und Regina unterdrückte jeden Widerspruch. „Was für ein guter Mensch ist doch Papa!“ dachte sie, „gläubig wie ein Kind und mit allem Fleiß darauf bedacht, jede Beleidigung zu entschuldigen. Genau wie Ernst, aber Männer sind sie beide nicht.“

Ernst Zeisig war der Sohn des Nachbarhauses, Reginas Jugendgespiel, Jugendfreund. Er war der einzige ihrer näheren Bekannten, der im Felde stand, und fast spaßig berührte es sie, sich diese gute Seele als Barbaren denken zu sollen; allerdings fast ebenso schlecht konnte sie sich sein knabenhaftes Milchgesicht im wallenden Vollbart vorstellen. Die Beziehungen zwischen den beiden Nachbarskindern waren nach langer Unterbrechung neu angeknüpft worden, als Ernst kurz vor Ausbruch des Krieges die Pfingstferien zu Hause zubrachte. Regina erkannte sehr bald, daß das Herz des jungen Philologen sich ihr zudrehte, wie die Blume nach der Sonne, aber sie war durchaus noch nicht entschlossen, die Sonnenrolle in seinem Leben zu spielen, obwohl dies von beiden Familien sicher mit Freude begrüßt worden wäre. Einen besseren Mann, das gestand sie sich selbst, würde sie niemals finden, nur war er zu gut und zu wenig Mann. Sie konnte den schüchternen Jüngling ja um den Finger wickeln, und er strahlte vor Glück, wenn sie ihn für allerlei Dienste gebrauchte und ihn dazu vielleicht wegen seiner Unbeholfenheit foppte. Wie lustig war ihr letzter Ausflug gewesen; sie und drei Freundinnen hatten ihm ihre Handttäschchen und Paketchen mit Einkäufen aufgeladen. Er hatte alles an seinem Stock über der Schulter getragen, und als Regina dann ihren Arm in den seinen legte, sagte er wonnestrahlend: „Jetzt fehlt nur noch ein Kinderwagen, dann wäre der wohl dressierte Ehemann fertig.“

Einen Brief von ihm aus dem Felde hatte sie nicht erhalten, auch nicht erwartet: er war doch zu schüchtern;

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Aurel von Jüchen: Frauenleben im Weltkriege. Xenien-Verlag, Leipzig 1915, Seite 99. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:J%C3%BCchenFrauenlebenImWeltkriege.pdf/101&oldid=- (Version vom 1.8.2018)