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Diese Anbeterei des Staates war ebenso naiv, wie die Gottesverehrung. Wie sich die Gläubigen von ehedem einen aussernatürlichen Regulator der Dinge vorstellten, so träumten die Neugläubigen von einer ausser- und übergesellschaftlichen Staatsmacht. Sie begriffen also nicht, dass der Staat nichts Anderes ist, als ein Gewaltsorganismus, welcher von Denen geschaffen und gehandhabt wird, deren materielle Stellung in der Gesellschaft es erlaubt, die Uebrigen auszubeuten und zu unterdrücken. Was sie gegen die herrschenden Klassen glauben in das Spiel bringen zu können, ist nichts Anderes, als die organisirte Tyrannei derselben. Es wäre nicht minder naiv gewesen, wenn sie in der Einbildung gelebt hätten, die Emanzipation des Proletariats müsse durch die Bourgeosie besorgt werden; denn es würde das aufs Nämliche hinausgelaufen sein.

Im öffentlichen Leben haben eben die Menschen das Affenartige bisher ebenso wenig ganz abstreifen können, wie in ihrem privaten Handeln. Weil den Arbeitern die Geschichte lehrt, dass jedesmal, wenn eine Volksklasse sich frei machte, dieselbe vor Allem die Staatsgewalt in ihre Hände zu bekommen trachtete, so wurde daraus der falsche Schluss gezogen: dass das Proletariat auch zunächst ”an’s Ruder“ kommen müsse, bevor etwas Weiteres geschehen könne.

Es wurde dabei übersehen, dass es bei den bisherigen Gesellschaftsumwälzungen sich nur darum handelte, an die Stelle einer herrschenden Klasse eine andere zu setzen, nicht aber die Freiheit des ganzen Volkes zu errichten. Wenn z. B. bei dem jüngsten dieser Umgestaltungsprozesse die Bourgeoisie die Staatsgewalt eroberte und dieselbe fester als je organisirte, so begreift sich das sehr wohl. Sie hatte mittelst dieser Macht einerseits die Aristokratie alten Schlages so empfindlich wie möglich zu treffen, resp. lahm zu legen, und andererseits sich dahinter vor dem arbeitenden Volke, das sie auszubeuten beabsichtigte, zu verschanzen.

Ganz anders steht es hinsichtlich des Strebens der arbeitenden Volksmassen von heute. So weit dasselbe konsequenter Natur ist – und unklare oder halbheitliche Seitenströmungen können hier überhaupt nicht in Betracht kommen – läuft es doch wahrhaftig nicht darauf hinaus, eine neue Klassenherrschaft zu etabliren; vielmehr wird zum ersten Male die Abschaffung aller Klassenvorrechte und mithin der Klassen selbst angestrebt.

Gegen wen also sollte sich ein neues Gewaltsinstrument – ein Staat – kehren? Wessen Privilegien sollte er schützen? Wer sollte durch ihn unterjocht und im Zaume gehalten werden?

Vielen sozialistischen Schriftstellern scheinen diese Fragen sich schon längst aufgedrängt zu haben, so oft sie an den Zusammenbruch des Bestehenden und an die Neugestaltung des ganzen sozialen Lebens dachten. Aber gewöhnlich schlichen sie gar sachte daran vorbei, gerade als ob eine präzise Antwort, die natürlich in der Verneinung des Staates hätte gipfeln müssen, ihr schlechteres Ich zu erschrecken geeignet gewesen wäre.

So sagten sie denn: es werde das Proletariat zur Herrschaft gelangen; aber in dem nämlichen Augenblick, wo das der Fall sei,