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„Reich Gottes“ verwandt ist, dessen irdische Erscheinung die christliche Kirche sein will. Die theoretischen Voraussetzungen und die Gestalt beider sind verschieden, aber ihr Grundgedanke ist derselbe: in beiden handelt es sich um ein sittliches Gemeinwesen, eine Erziehungsanstalt, deren letztes Ziel in einer jenseitigen Welt liegt. Sagt doch Plato auch geradezu, es sei keine Rettung für die Staaten, wenn nicht die Gottheit in ihnen die Herrschaft führe. Wenn ferner diese Herrschaft bei Plato durch die Philosophen ausgeübt werden soll, weil sie allein im Besitz der höheren Wahrheit sind, so nehmen in der mittelalterlichen Kirche die Priester die gleiche Stellung ein; und wie jenen die Krieger als vollziehende Macht zur Seite treten, so ist nach mittelalterlichen Begriffen eben dieses die höchste Aufgabe des geistlichen Kriegerstandes, der Ritter und Fürsten, die Kirche auszubreiten und zu schützen, die Vorschriften, welche sie durch den Mund der Priester ertheilt, auszuführen. Die drei mittelalterlichen Stände, der Lehrstand, Wehrstand und Nährstand, sind im platonischen Staat vorgebildet, und die Herrschaft des ersteren, welche sich in der Wirklichkeit allerdings nur theilweise durchsetzen ließ, ist wenigstens von ihm selbst nicht minder entschieden und aus den gleichen Gründen verlangt worden, wie von Plato die der Philosophen: weil sie allein die ewigen Gesetze kennen, nach denen die Staaten, wie die Einzelnen, sich richten müssen, um ihrer höheren Bestimmung zu entsprechen. Auch die Bedingungen endlich, an welche diese hohe Stellung des Lehrstandes geknüpft ist, sind in der mittelalterlichen Kirche großentheils dieselben, wie bei unserem Philosophen, nur aus dem Griechischen in’s Christliche übersetzt; denn jene Gemeinsamkeit alles Besitzes, welche Plato den Staaten als höchstes Gut wünscht, ist auch christliches Ideal, und wenn hiebei in der christlichen Kirche der Begriff der Entsagung, der freiwilligen Armuth, im platonischen Staat der der Gütergemeinschaft stärker hervortritt, so hebt sich doch auch dieser Unterschied wieder großentheils auf: auch Plato verlangt ja von seinen Philosophen und Kriegern, daß sie sich auf die einfachste Lebensweise zurückziehen, und auch die christliche Kirche hat die geistliche Armuth selbst in den Bettelorden nur unter der Form des gemeinschaftlichen Besitzes zu verwirklichen vermocht. Selbst die platonische Weibergemeinschaft steht aber dem Cölibat ihrem Wesen nach weit näher, als

Empfohlene Zitierweise:
Eduard Zeller: Der platonische Staat in seiner Bedeutung für die Folgezeit. In: Historische Zeitschrift Bd. 1. Literarisch-artistische Anstalt der J. G. Cotta’schen Buchhandlung, München 1859, Seite 114. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Historische_Zeitschrift_Bd._001_(1859)_114.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)