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diesem jammernd[WS 1] gesagt: „Denke Dir, mein Sohn ist durchgefallen!“ Worauf der Andere entgegnete: „Tröste Dich, meiner auch!“

Welcher von beiden aus Großmuth eine ungenügende Prüfung abgelegt hatte, das konnte nie mit voller historischer Verläßlichkeit klargestellt werden. In der böswilligen Ecke der Familie – bekanntlich gibt es in jeder Familie eine böswillige Ecke, und manche besteht überhaupt nur aus solchen Ecken – wurde diese Opferungsgeschichte zwar für eine sinnreiche Fabel erklärt; aber den Vätern war es doch ein anhaltender Trost, daß der Bruderssohn auch nicht mehr tauge. Jeder ließ übrigens in Gesprächen durchschimmern, daß sein Sprößling aus jugendlichem Zartgefühl den Vetter nicht habe beschämen wollen. Kilchberg und sein Vetter waren nun von weiterem Kopfzerbrechen befreit und durften sich dem kaufmännischen Berufe zuwenden. Der Bund litt natürlich keineswegs darunter. Anstatt den Thukydides mißzuverstehen, drangen sie selbander in die Geheimnisse der doppelten Buchführung ein und erlernten den Styl flotter Geschäftsbriefe, die man „mit Bezug auf Ihr Werthes vom sovielten“ beginnt und „ohne Mehranlaß mit Achtung“ schließt. Sie wurden zwei gediegene Schwengel, lebten sich rasch in die Routine hinein und wurden allmählich respektabel.

Ganz gleich waren sie allerdings nicht mehr. Kilchberg war der Bedeutendere von den Beiden. Er hatte kühnere Ideen, träumte auch zuerst davon, sich selbständig zu machen und die Stadt durch seine Unternehmungen in Staunen zu versetzen. Indessen war Martin der solidere Rechner, that nie einen Fuß vor den andern, ohne sich vorher die Tragweite dieses Schrittes wohl überlegt zu haben. Aber sie harmonirten doch noch vollständig. Sie

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: jammmernd
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Theodor Herzl: Philosophische Erzählungen. Gebrüder Paetel, Berlin 1900, Seite 90. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Herzl_Philosophische_Erzaehlungen.djvu/95&oldid=- (Version vom 1.8.2018)