Solon war in der Kraft seiner Jahre und seines Geistes, als er sich entschloß, Athen zu verlassen. Auf den Kyrben standen seine Gesetze, aber den Bürgern waren sie noch allzu neu. Täglich kamen Männer aus allen Kreisen und betrachteten mit Staunen oder Unwillen die Axones des Solon. Sein Freund Hipponikos redete ihn darauf an:
„Du siehst, wie Deine Gesetze allen Steuerklassen mißfallen.“
„Weil sie neu sind, Hipponikos. Meine Gesetze sind noch nicht gut, aber auch noch nicht schlecht. Junge Gesetze gleichen in Manchem dem Weine. Sie müssen reifen, nachdem sie fertig geworden sind.“
„Mein Solon, Du hast es Keinem recht gemacht. Ich wundere mich nicht, daß die Pentakostomedimnen, die Ritter und auch die Zeugiten wider Dich sind, denn Du bist ein Freund der vierten Klasse, zu der Du selbst nicht gehörst. Aber auch die Theten murren in ihrem Innern, und wenn sie Dich nicht so blind verehrten, weil ihnen Deine Seisachtheia das Schuldenzahlen erleichtert hat, sie würden wohl gegen Dich aufstehen.“
„Gesetze, Hipponikos, können nicht allen Leuten behagen. Der ist ein Thor, ein Träumer, wenn nicht ein Schurke, der durch Gesetze irgendwen zufriedenstellen will.
Theodor Herzl: Philosophische Erzählungen. Gebrüder Paetel, Berlin 1900, Seite 3. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Herzl_Philosophische_Erzaehlungen.djvu/8&oldid=- (Version vom 1.8.2018)