Es fehlte ihr die angeborene Grazie. Sie war eine Frauensperson, aber kein Weib. Und das konnten die Lehrer nicht aus ihr machen. Das konnte nur ich. Sie haben keine Ahnung, wie schwer es ist, so eine „gottbegnadete Künstlerin“ herzurichten. Der Pöbel im Parterre will trotz aller Kunsttartüfferie bei gröberen Instinkten gepackt werden. Das sogenannte „elektrische Fluidum“, das durch den Zuschauerraum zittert, ist wunderbar das gleiche bei allen Darstellungen – mag das Weiblein als Maria Stuart über die Bretter wanken oder in Gazeröckchen durch Papierreifen springen, mag das Männchen als Parforcereiter einhersprengen oder ein Frühlingslied säuseln.
Ich kam mir vor, wie der griechische König oder Bildhauer – ich weiß nicht mehr, was er war – dieser Pygmalion, der aus Elfenbein das göttliche Weib schnitzte. Ich habe aus dem Klimpfinger’schen Klotz eine Diva herausgenommen … Die meisten meiner Kollegen nehmen den Expreßzug durch die Lehrzeit; dann kommen die jämmerlichen Zöglinge abgehetzt, hungrig und ermüdet an. Ich dagegen gewöhnte die Klimpfinger an das Wohlleben, die Trägheit, die Eleganz. Ich nahm sie nach Paris. Da lernte sie sich parfümiren und kleiden. Ich brachte ihr alle Raffinirtheiten bei – von der Rosette, die den kleinen Schuh verführerisch macht, bis zu der bizarren Goldnadel, die köstlich und verwegen im duftenden Haare steckt. Und sie gedieh in meiner Pflege. Schon sah sie einem schönen Weibe täuschend ähnlich. Das gute Leben füllte ihren Körper, rundete ihre Wangen, gab ihrer ganzen Erscheinung Farbe und Glanz. Die Leute begannen sich nach ihr umzudrehen, wenn sie an meinem Arme vorüberschritt. Die Bekannten fragten mit dem bekannten Augenzwinkern, wer die interessante Person sei. Ich ließ die Herren zwinkern,
Theodor Herzl: Philosophische Erzählungen. Gebrüder Paetel, Berlin 1900, Seite 61. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Herzl_Philosophische_Erzaehlungen.djvu/66&oldid=- (Version vom 1.8.2018)