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„Wie meinten sie das eigentlich mit der Kunst gegen die Natur – oder wie war es doch?“

„Nicht jetzt!“ sagte Herr Gerhard freundlich und drückte ihm den Arm. „Hören wir lieber zu!“ Und er wies mit der Cigarre hinauf nach einem Balkon des ersten Stockwerkes. Zur offenen Thür heraus drangen Claviertöne.

Herr Hellmund lauschte, und nach einer Weile flüsterte er: „Wer spielt denn so wundervoll?“

„Sarah Holzmann!“

„Die kleine Jüdin?“

„Ja.“

Auch die Uebrigen horchten hinauf. Frau Holzmann saß da mit einer eleganten Handarbeit; vor ihr auf einem niedrigen Weidenfauteuil, beinahe zu ihren Füßen, Herr v. Rosen. Frau Holzmann blickte manchmal auf, sah dem Baron sekundenlang tief in die Augen und dann wieder auf ihre Stickerei, wobei sie immer nachträglich lächelte, als hätten sie einander etwas gesagt.

Oben klang es weiter. Auf dem See lag ein Mittagshauch. Herr Gerhard träumte über die Berge hinweg. Wie lange saßen sie? Herr Hellmund sprach mitten in einem Stück, halb zu sich selbst: „Diese Musik geht mir durch Mark und Bein.“

Da schaute ihn Herr Gerhard mit einem dankbaren Ausdruck an und sagte ganz leise: „Sie sind vielleicht ein guter Mensch.“

Auch dieses zeitlose Zuhören ging zu Ende. Als nun die letzten Klänge verhallt waren und nichts mehr nachkommen wollte, erwachten die beiden Herren.

„Das sind doch andere Töne, als die ich heute Morgens aus dem Nebenzimmer hörte,“ sagte Herr Hellmund, um etwas zu sagen.

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Theodor Herzl: Philosophische Erzählungen. Gebrüder Paetel, Berlin 1900, Seite 42. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Herzl_Philosophische_Erzaehlungen.djvu/47&oldid=- (Version vom 1.8.2018)