Geschichte sagen. Auch ich bin einmal, wie Sie, an dieses letzte Ufer heruntergekommen. Ich hatte mein Leben bis zur Ermüdung dumm geführt. Ich war reich, übersättigte mich an allen Genüssen und hatte schließlich den Ekel bis da hinauf. Spleen, schwerste Form; also weg damit. Als ich an den Fluß kam, in der Abendstunde, verließen eben die Arbeiter die Fabrik. Wie ich diese erschöpften Gestalten vorüberziehen sah, empfand ich plötzlich das Bedürfniß, ihnen wohlzuthun. Ich vertheilte meine Barschaft unter sie, und da sich ihre Gesichter aufheiterten, war es mir leid, daß ich nicht mehr bei mir hatte. Mein ganzes nutzloses Vermögen hätte ich armen Leuten zuwenden sollen, schon damit es nicht an einige meiner Verwandten falle, die davon einen ebenso schmählichen Gebrauch machen würden, wie ich selbst. Mit einem der beschenkten Arbeiter gerieth ich in ein Gespräch. Ich ließ mir seine persönlichen Verhältnisse und den Lohnzustand sowie die Arbeitsart erklären. Ich lauschte dem armen Manne gerührt wie Einer, der Abschied nimmt. Was es in einer solchen Fabrik Alles gibt: Menschliches, Technisches! Und diese war besonders merkwürdig. Hier wurden Abfälle verarbeitet, mit denen man früher nichts anzufangen wußte. Die Gasfabriken ließen ehemals den Theer wegwerfen, man zahlte sogar für das Fortschaffen des übelriechenden Bodensatzes. Da wurde eine Methode entdeckt, wie man den Theer verarbeiten kann. Und siehe, jetzt wird aus dem verachteten Stoffe vielerlei Nützliches und Werthvolles gewonnen. Das Anilin ist nur eines dieser Erzeugnisse. Mir fiel aber in der einfachen Erzählung des Arbeiters der Gegensatz auf, daß die schönen freudigen Farben aus dem Theer herausgenommen werden, daß sie daraus sozusagen hervorblühen. Und das Ganze wurde mir zu einem
Theodor Herzl: Philosophische Erzählungen. Gebrüder Paetel, Berlin 1900, Seite 242. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Herzl_Philosophische_Erzaehlungen.djvu/247&oldid=- (Version vom 1.8.2018)