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da er sich keinen andern Ausweg wußte. Und wie er in seinem Kummer dahinlief, konnte er sich doch nicht enthalten, ein bißchen schadenfroh zu lächeln, wenn er ihr Entsetzen vorausbedachte. Das war eine ebenso schwere als gerechte Strafe, die er durch seinen Tod über sie verhängte. Sie würde in den Gymnasien der Zukunft noch mehr Unwillen erregen, als die Hausfrau des Sokrates. Er malte sich die nächsten Folgen des Ereignisses aus, dem er jetzt kaltblütig entgegenschritt. Auf einen ausführlichen Nekrolog in der Vierteljahrsschrift für philosophische Studien durfte er wohl rechnen. Einen leichten Schmerz empfand er nur bei dem Gedanken, daß man Herrn Schreier aus Jena auf die erledigte Lehrerkanzel berufen könnte; denn gerade Herr Schreier wäre ihm als Nachfolger unangenehm gewesen. Aber gleich darauf erkannte er diese eifersüchtige Regung als das, was sie war: als eine Maske des Willens zum Leben, und er schüttelte sie beherzt ab. Wenn Philosophen sterben gehen, so blicken sie groß und gefaßt auf Alles, sogar auf die mögliche Nachfolgerschaft eines Menschen wie Schreier.

Der Professor wandelte schnell und sicher durch die Nacht, wie Jemand, der seinen Weg genau kennt. Draußen vor der Stadt gab es am Strom eine Gegend, welche von jeher bei Selbstmördern beliebt gewesen, und sie hatte im Volksmunde den Namen „das letzte Ufer“. Dort war der Fluß an einer scharfen Biegung besonders reißend. Wer sich dort ins Wasser begab, der kam nicht wieder. Heitere Spaziergänger mieden das letzte Ufer, und auch der Professor besann sich jetzt, daß er schon seit Jahren nicht hiehergekommen war. Er bemerkte das an einer großen Fabrik; er konnte sich nicht erinnern, dieses Gebäude mit den hohen Schloten in früherer Zeit hier gesehen zu haben. Weiter

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Theodor Herzl: Philosophische Erzählungen. Gebrüder Paetel, Berlin 1900, Seite 236. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Herzl_Philosophische_Erzaehlungen.djvu/241&oldid=- (Version vom 1.8.2018)