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Wieder eilte ein Bote nach Miletos. Als er wiederkam, konnte er nur mit Mühe durch die Straßen von Sardes dringen, denn sie waren vom Aufruhr erfüllt. Die Krieger des Kroisos kämpften wider das verstörte Volk. Man hörte den Waffenlärm bis in die Gemächer des Königs, wo bei Kroisos dessen Freunde Solon und Aesop und die jungen Brautleute weilten. Eine goldene Trinkschale und einen schönen Quittenapfel hatte Kroisos vor sich.

„Omphale!“ flüsterte Eukosmos, „ängstige Dich nicht. Ich vertheidige Dich mit meinem Leben, wenn dieser Pöbel herankommen wollte.“

„Mir ist nicht bange, Eukosmos, wenn ich Dich nur habe. Mögen sie uns verjagen. Ich folge Dir nach Bolissos und wohin Du willst. Ich will Dein Weib sein. Dein, Dein, Dein! In Armuth oder Wohlergehen – nur Dein! Ich liebe Dich.“

Kroisos hatte die Antwort des Thales gelesen. Er seufzte tief und reichte sie den Freunden. Aesop las murmelnd und bebend: „König! Ich reiste fort, um Dir zu gehorchen. Denn in mir fand ich die Weisheit nicht, welche Du von mir verlangst. Es gibt nur einen Mann unter den Griechen, der den Staat tief genug erfaßt, um eine solche Frage lösen zu können. Diesen Mann suchte ich und ging nach Athen. Er hatte seine Vaterstadt verlassen. Ich zog seiner Spur nach und kam in das Land der Aegypter. Er war schon fort. Erst auf Cypern erfuhr ich, wo er weile. Er weilt bei Dir. Darum schwieg ich. Was soll ich Dir seine Weisheit im Eimer bringen, da Du selber aus dem Brunnen schöpfen kannst. … Thue, König, was Dir Solon räth!“

Zitternd langte Kroisos nach der goldenen Trinkschale. Zitternd gab er sie dem Solon und bedeckte sich hierauf die thränenüberströmten Augen mit der Hand.

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Theodor Herzl: Philosophische Erzählungen. Gebrüder Paetel, Berlin 1900, Seite 19. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Herzl_Philosophische_Erzaehlungen.djvu/24&oldid=- (Version vom 1.8.2018)