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einen Zufall nicht zum Vorschein? Vielleicht verpaßte er den günstigen Augenblick? Er mußte einmal rechts gehen und ging links. Oder kam um eine Viertelstunde zu spät zum Stelldichein. Die Gelegenheit war versäumt und nichts konnte sie wieder bringen. Oder, wenn er ein Soldat war, fiel er am Rhein, in Italien oder in den Niederlanden. Er diente unter Hoche oder Pichegru, Moreau oder Schérer, und er starb in einem Lazareth an der Vernachlässigung seiner Wunde. Oder er blieb am Leben und entmuthigte sich, kurz bevor der Erfolg eingetreten wäre.“

„Und Sie wollen damit sagen?“

„Ich will damit sagen …“

Eine auffallende Erscheinung unterbrach die Rede des Akademikers, der dann fortzufahren vergaß. Unter heftigem Stoße war die Thür aufgegangen, und ein kleiner, dicker, ältlicher Mann stand im Rahmen. Das Licht der Oellampen, welche den Eingang erhellten, fiel auf ihn.

„Pétout!“ schrie er nach dem Schanktische hin, „ist nichts für mich gekommen?“

Pétout, der Wirth, der eben mit einem schmutzigen Lappen ein Glas zu reinigen versuchte, setzte Alles hin und stampfte zur Thür. Er hob die Hand wie zu militärischem Gruße, berührte sich die Stirn und meldete stramm:

„Nichts, mein General!“

Der dicke alte Mensch in der Thür ließ nach dieser Auskunft einen Augenblick das mächtige Kinn auf die Brust sinken. Zwar konnte man den Ausdruck seines Gesichtes nicht sehen, weil der tief in die Stirne gerückte Hut es beschattete; doch war die Enttäuschung und Niedergeschlagenheit in der ganzen Haltung des Mannes unverkennbar. Die kleine aristokratische Gesellschaft beobachtete ihn aufmerksam.

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Theodor Herzl: Philosophische Erzählungen. Gebrüder Paetel, Berlin 1900, Seite 223. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Herzl_Philosophische_Erzaehlungen.djvu/228&oldid=- (Version vom 1.8.2018)