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Sie standen vor der niederen Thür des Gasthauses. Der Vicomte fuhr fort:

„Hier habe ich an dem Tage gespeist, an dem unsere theure Königin von den Mördern auf das Schaffot geschleift wurde.“

„Ich hätte an dem Tage überhaupt nichts essen können“, murmelte die Herzogin.

„Ich sage ja nicht, daß ich Appetit hatte, Madame. Ich mußte mich nur zu Tische setzen, wie gewöhnlich. Ich wäre sonst aufgefallen. Wehe dem Verdächtigen! Aber wie mir zu Muthe war, können Sie sich denken. Das Gesindel um mich herum scherzte über die Hinrichtung. Ich konnte der armen Marie Antoinette nicht mehr helfen, auch wenn ich eine Dummheit machte. Ich schluckte meine Thränen mit der elenden Suppe hinunter. Ich weiß es noch, als ob es gestern und nicht vor siebenundzwanzig Jahren gewesen wäre … Nebenbei, das macht mich nicht jünger!“

„Und hier wollen Sie uns diniren lassen, Herr Dubois?“ fragte die Marquise. „Glauben Sie, daß die Suppe inzwischen besser geworden ist?“

„Nein, aber er wird sie uns mit geschichtlichen Erinnerungen würzen“, erklärte Godefroy ein wenig ironisch.

„Ja, ja, treten wir nur ein!“ entschied die Herzogin. „Gut essen können wir alle Tage. Ich verstehe unseren Freund. Wir werden nach einer solchen Gedächtnißmahlzeit mit um so größerem Vergnügen heimkehren.“

„In Ihre Paläste, die Sie Gott und dem König sei Dank wiederhaben“, ergänzte Herr Godefroy, von dem man eigentlich nie wußte, ob seine Worte ganz ernst gemeint waren.

Es war eine ärmliche Taverne. Die getünchten Mauern ziemlich unsauber, Spinngewebe in den oberen

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Theodor Herzl: Philosophische Erzählungen. Gebrüder Paetel, Berlin 1900, Seite 220. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Herzl_Philosophische_Erzaehlungen.djvu/225&oldid=- (Version vom 1.8.2018)